Das Geisterhaus
denn Jaime und
Alba hatten seit ihrer Schulzeit keinen Sport mehr getrieben und
nie eine Vorliebe für die Beschwerlichkeiten des Alpinismus an
den Tag gelegt. Eines Samstagmorge ns fuhren sie in einem
geliehenen Jeep ab, mit einem Zelt, einem Korb voll Proviant
und einem geheimnisvollen Koffer, den sie zu zweit tragen
mußten, weil er schwer wog wie ein Toter. In dem Koffer waren
die Waffen, die sie dem Großvater gestohlen hatten. Voll
Begeisterung fuhren sie die Berge hoch, so weit die Straße
reichte, dann gingen sie querfeldein auf der Suche nach einem
ruhigen Ort zwischen der von Wind und Kälte verkümmerten
Vegetation. Dahin schleppten sie ihr Gepäck, schlugen ohne
jede Sachkennt nis ihr Zelt auf und hoben mehrere Löcher aus, in
denen sie die Plastiktüten vergruben. Dann markierten sie jede
Stelle mit einem Häuflein Steine. Den Rest des Wochenendes
verwandten sie darauf, im Fluß Forellen zu angeln und sie über
einem Holzfeuer zu braten, über die Hügel zu wandern wie
forschungsfreudige Kinder und sich von ihrer Vergangenheit zu
erzählen. Am Abend machten sie sich Rotweinpunsch mit
Zucker und Zimt, stießen, in ihre Schlafsäcke gekuschelt, auf
das Gesicht an, das der Großvater machen würde, wenn er
merkte, daß sie ihn ausgeraubt hatten, und lachten, daß ihnen die
Tränen über die Backen sprangen. »Wenn du nicht mein Onkel
wärst, würde ich dich heiraten«, scherzte Alba.
»Und Miguel?«
»Wäre mein Geliebter.«
Jaime fand das nicht lustig und war für den Rest des Ausflugs
zugeknöpft. In der Nacht krochen sie jeder in seinen Schlafsack,
löschten die Paraffinlampe und schwiegen. Alba schlief bald
ein, aber Jaime lag bis zum Morgengrauen mit offenen Augen in
der Dunkelheit. Er hatte oft gesagt, Alba sei wie seine Tochter,
aber in dieser Nacht ertappte er sich bei dem Wunsch, nicht ihr
Vater oder ihr Onkel, sondern einfach Miguel zu sein. Er dachte
an Amanda und bedauerte, daß sie ihn nicht mehr aufregen
konnte, er suchte in seinem Gedächtnis nach dem Herd der
gewaltigen Leidenschaft, die er einmal für sie aufgebracht hatte,
konnte ihn aber nicht finden. Er war ein Einzelgänger geworden.
Anfangs war er
Amanda nahegekommen, weil er ihre
Behandlung übernommen hatte und sie fast täglich sah. Sie hatte
wochenlang zwischen Leben und Tod geschwebt, bis sie die
Drogen entbehren konnte. Sie hörte auch auf zu rauchen und zu
trinken und begann ein gesundes, geordnetes Leben zu führen,
sie nahm etwas zu, schnitt sich das Haar, und in einem
ergreifenden Versuch, das verblichene Bild ihrer selbst
wiederzufinden, schminkte sie sich wieder ihre großen dunklen
Augen und trug wie früher klirrende Armbänder und Ketten. Sie
war verliebt. Aus der Depression verfiel sie in einen Zustand
ständiger Euphorie, und Jaime war der Mittelpunkt ihrer Manie.
Die enorme Willenskraft, die sie aufbringen mußte, um sich von
ihren zahlreichen Süchten zu befreien, bot sie ihm als Beweis
ihrer Liebe dar. Jaime bestärkte sie nicht darin, hatte aber auch
nicht den Mut, sie abzuweisen, weil er dachte, daß ihr die
Illusion der Liebe helfen könnte, gesund zu werden, doch er
wußte, daß es für sie beide zu spät war. Sobald er konnte,
versuchte er sich mit der Entschuldigung abzusetzen, er sei ein
Junggeselle und für die Liebe verloren. Ihm genügten die
flüchtigen Begegnungen mit gefälligen Krankenschwestern oder
die traurigen Bordellbesuche, um in der wenigen freien Zeit, die
seine Arbeit ihm ließ, seine dringendsten Bedürfnisse zu
befriedigen. Gegen seinen Willen sah er sich in der Beziehung
zu Amanda verstrickt, die er sich in seiner Jugend so sehr
gewünscht hatte, die ihn jetzt aber kalt ließ und die
aufrechtzuerhalten er sich außerstande fühlte. Amanda flößte
ihm nur ein Gefühl des Mitleids ein, Mitleid aber war eine der
stärksten Empfindungen, deren er fähig war. Die vielen Jahre
ununterbrochener und engster Berührung mit dem Elend und mit
dem Schmerz hatten seine Seele nicht verhärtet, sie im
Gegenteil für Nächstenliebe immer verletzlicher gemacht. An
dem Tag, an dem Amanda die Arme um seinen Hals schlang
und ihm sagte, sie liebe ihn, umarmte er sie mechanisch und
küßte sie mit vorgetäuschter Leidenschaft, damit sie nicht
merkte, daß er sie nicht begehrte. So sah er sich in einem Alter,
in welchem er sich anstrengenden Liebschaften nicht mehr
gewachsen fühlte, in einer absorbierenden Beziehung gefangen.
»Ich tauge zu diesen Dingen
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