Das Geisterhaus
Kommunisten, bis sein
altes Bardenherz zu stocken begann. Sie brachten ihn in die
Hauptstadt. Vier Tage später starb er, und die letzten Worte
dieses Mannes, der das Leben besungen hatte, waren: »Sie
werden sie erschießen, sie werden sie erschießen.« Keiner seiner
Freunde konnte in der Stunde seines Todes zu ihm, weil sie
vogelfrei, flüchtig, exiliert oder tot waren. Sein blaues Haus auf
dem Hügel war verwüstet, die Fußböden verbrannt, die
Fensterscheiben eingeschlagen, man wußte nicht, ob es das
Werk der Militärs gewesen war, wie die Nachbarn sagten, oder
das der Nachbarn, wie die Militärs behaupteten. Hier hielten
einige wenige Chilenen, die sich hergewagt hatten, und
Journalisten aus der ganzen Welt, die angereist waren, um über
seine Beerdigung zu berichten, die Totenwache. Senator Trueba
war ideologisch sein Feind, aber er hatte ihn oft in seinem Haus
zu Gast gehabt und kannte seine Verse auswendig. In strenges
Schwarz gekleidet, erschien er mit seiner Enkelin Alba. Beide
hielten Totenwache vor dem einfachen Holzsarg und begleiteten
ihn an einem glücklosen Morgen auf den Friedhof. Alba trug
einen Strauß blutroter Nelken, die ersten der Saison. Langsam,
zu Fuß, zwischen zwei Reihen Soldaten, die die Straße
abriegelten, bewegte sich der Zug auf den Friedhof zu.
Die Leute gingen schweigend. Plötzlich schrie jemand mit
heiserer Stimme den Namen des Dichters, und wie mit einer
Stimme scholl es aus allen Kehlen: »Hier! Jetzt und immer!« Es
war, als hätte sich ein Ventil geöffnet und als stiege der ganze
Schmerz, alle Angst und Wut dieser Tage aus der Brust dieser
Menschen, setze sich fort durch die Straße und erhebe sich in
einem furchtbaren Aufschrei zu den schwarzen Wolken am
Himmel. Ein anderer rief: »Genosse Präsident!« und alle
antworteten in einem einzigen Klageschrei: »Hier!« Nach und
nach wurde die Beerdigung des Dichters zu einem symbolischen
Begräbnis der Freiheit.
Nahe neben
Alba und ihrem Großvater filmten die
Kameraleute des schwedischen Fernsehens, um dem kalten
Lande Nobels das schauerliche Bild der zu beiden Seiten
postierten Maschinengewehre zu übermitteln, die Gesichter der
Menschen, den mit Blumen bedeckten Sarg, die Gruppe
schweigender Frauen, die sich, zwei Häuserblocks weiter, vor
den Toren des Leichenhauses drängten, um die dort
angeschla genen Totenlisten zu lesen. Aller Stimmen erhoben
sich zum Gesang, und die Luft füllte sich mit den verbotenen
Losungen, geeintes Volk wird nie besiegt, schrien sie den
Waffen entgegen, die in den Händen der Soldaten zitterten. Der
Zug kam an einem Neubau vorbei, und die Arbeiter legten ihre
Werkzeuge hin, nahmen die Helme ab und traten gesenkten
Haupts in einer Reihe an. Ein Mann ging mit, in Hemdsärmeln
mit abgestoßenen Manschetten, ohne Jacke und in
zerschlissenen Schuhen, der die revolutionärsten Verse des
Dichters rezitierte, und die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Der
erstaunte Blick Senator Truebas, der neben ihm ging, ruhte auf
ihm.
»Schade, daß er ein Kommunist war«, sagte der Senator zu
seiner Enkelin. »Ein so guter Dichter und so verworrene Ideen!
Wäre er vor dem Militärputsch gestorben, hätte er ein
Staatsbegräbnis bekommen.«
»Er hat es verstanden, so zu sterben, wie er gelebt hat,
Großvater«, erwiderte Alba.
Sie war überzeugt, daß er zur rechten Zeit gestorben war und
daß ihm keine größere Ehrung hätte zuteil werden können als
dieser schlichte Zug von Männern und Frauen, die ihn in einem
Leihgrab begruben und ein letztes Mal seine Verse über die
Gerechtigkeit und die Freiheit rezitierten. Zwei Tage später
erschien eine Bekanntmachung der Militärjunta in den
Zeitungen, in welcher Staatstrauer verordnet und erlaubt wurde,
daß in Privathäusern auf Wunsch die Fahnen auf halbmast
gesetzt werden durften. Die Genehmigung erstreckte sich auf
den Zeitraum zwischen dem Tod des Dichters und dem Tag, an
dem die Bekanntmachung erschien.
So wenig sie sich hatte hinsetzen können, um den Tod ihres
Onkels Jaime zu beweinen, so wenig durfte Alba in Gedanken
an Miguel den Kopf verlieren oder den Dichter betrauern. Sie
war ganz in Anspruch genommen von ihrer Aufgabe,
nach
Verschwundenen zu forschen, Gefolterte zu trösten, die mit
irren Augen, der Rücken eine einzige Wunde, in die Hauptstadt
zurückkamen, und Lebensmittel für die Kantinen der Pfarrer
aufzutreiben. In der Nacht aber, wenn die Stadt ihre
oberflächliche Betriebsamkeit und ihren
Weitere Kostenlose Bücher