Das Geisterhaus
Verse
eines jungen Dichters zu rezitieren, von dem man überall zu
sprechen begann und den sie in ihr Haus aufgenommen hatte -,
ohne die Veränderungen an ihrer Tochter wahrzunehmen, ohne
die Schuluniform mit den platzenden Nähten zu sehen und zu
bemerken, daß sich das Apfelgesicht ihrer Tochter unmerklich
in das Gesicht einer Frau verwandelte, denn Clara achtete mehr
auf Aura und Fluidum als auf Kilos und Zentimeter. Eines Tages
sah sie sie in ihrem Ausgehkleid ins Nähzimmer kommen und
wunderte sich, daß diese hochgewachsene brünette Señorita ihre
kleine Bianca sein sollte. Sie nahm sie in die Arme, bedeckte sie
mit Küssen und eröffnete ihr, daß sie nun bald ihre Menstruation
bekommen werde.
»Setz dich, ich werde dir das erklären«, sagte Clara.
»Mach dir keine Sorgen, Mama, seit einem Jahr habe ich sie
jeden Monat«, lachte Bianca.
Die Beziehung zwischen beiden änderte sich durch die
Entwicklung des Mädchens wenig, da sie auf den soliden
Grundsätzen beruhte, sich gegenseitig voll anzuerkennen und
über die meisten Dinge des Lebens gemeinsam zu lachen.
In diesem Jahr kündigte sich der Sommer früh mit einer
erstickenden, trockenen Hitze an, die der Stadt die Ausstrahlung
eines Alptraums verlieh, weshalb die Reise zu den Drei Marien
um ein paar Wochen vorverlegt wurde. Wie alle Jahre erwartete
Bianca den Moment, in dem sie Pedro Tercero sehen würde, und
wie alle Jahre war das erste, nachdem sie ausgestiegen war, ihn
mit den Augen zu suchen. Sie entdeckte seinen Schatten auf der
Schwelle der Tür, sprang vom Wagen und lief ihm entgegen mit
dem Verlangen so vieler Monate, in denen sie von ihm geträumt
hatte, sah aber überrascht, daß der Junge kehrtmachte und
davonlief. Den ganzen Nachmittag suchte Bianca einen nach
dem ändern die Orte auf, an denen sie sich gewöhnlich trafen,
sie fragte nach ihm, rief ihn, suchte ihn im Haus von Pedro
Garcia dem Alten und ging, als es Nacht wurde, zu Bett, ohne
gegessen zu haben. Traurig und verstört grub sie in ihrem
riesigen Messingbett das Gesicht in die Kissen und weinte
untröstlich. Die Nana, die ihr ein Glas Milch mit Honig brachte,
erriet sofort ihren Kummer.
»Froh bin ich«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Du
bist zu alt, um noch mit diesem verlausten Rotzbengel zu
spielen.«
Als eine halbe Stunde später ihre Mutter kam, um sie zu
küssen, traf sie ihre Tochter bei den letzten Schluchzern eines
melodramatischen Weinens an. Für einen Augenblick hörte
Clara auf, ein zerstreuter Engel zu sein, und ließ sich herab auf
die Ebene der gewöhnlichen Sterblichen, die mit vierzehn
Jahren ihren ersten Liebeskummer haben. Sie wollte den Grund
wissen, aber Bianca, zu stolz oder schon zu sehr Frau, gab ihr
keine Erklärung, so daß Clara nur eine Weile auf ihrem Bett
sitzen blieb und sie streichelte, bis sie sich beruhigt hatte.
In dieser Nacht schlief Bianca schlecht. Im Morgengrauen
wachte sie auf, umgeben noch von den Schatten im geräumigen
Zimmer, und blieb liegen, die Deckentäfelung betrachtend, bis
sie den Hahn krähen hörte. Da stand sie auf, zog die Vorhänge
zurück und ließ das sanfte Licht des frühen Morgens und die
ersten Geräusche der Welt ein. Sie trat vor den Spiegel im
Schrank und betrachtete sich eingehend. Sie zog das Hemd aus
und besah zum erstenmal ihren Körper in allen Einzelheiten und
begriff, daß diese Veränderungen der Grund waren, weshalb ihr
Freund geflohen war. Sie lächelte mit einem neuen, feinen
Frauenlächeln. Dann zog sie sich die alten Sachen vom
vergangenen Sommer an, die fast nicht mehr zugingen, warf
einen Umhang über und ging, auf Zehenspitzen, um ihre Familie
nicht zu wecken, ins Freie. Draußen erwachte das Land aus der
Schläfrigkeit der Nacht, die ersten Sonnenstrahlen fielen wie
Säbelhiebe von den Gipfeln der Kordilleren herab, die Erde
erwärmend und den Tau verdunstend zu feinem weißem
Schaum, der die Konturen der Dinge verwischte und die
Landschaft in eine Traumvision verwandelte. Bianca ging an
den Fluß. Alles war noch ruhig, das Knistern abgefallener
Blätter und trockener Zweige unter ihren Schritten war das
einzige Geräusch in diesem weiten, schlafenden Raum. Sie
fühlte, daß diese dunstigen Wege, diese goldgelben Kornfelder,
diese fernen violetten Berge, die sich im durchscheinenden
Morgenhimmel verloren, etwas aus dem Gedächtnis Erinnertes,
schon früher und genauso Gesehenes waren, daß sie diesen
Augenblick schon einmal erlebt hatte.
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