Das Geisterhaus
nachließ. Sie blickten in die langsam
hereinbrechende Dunkelheit, sahen die ersten Sterne am
Himmel aufglänzen, hörten die Frösche quaken und schwiegen.
Sie hatten vieles zu besprechen, Probleme mußten gelöst,
Absprachen getroffen werden, aber beide wußten, daß diese
halbe Stunde Stille ein verdienter Lohn war. Sie tranken ihren
Tee ohne Eile, um die Zeit auszudehnen, und jeder dachte an das
Leben des anderen. Sie kannten sich seit über fünfzehn Jahren,
alle Sommer waren sie sich nahe gewesen, hatten aber, alles in
allem, kaum ein paar Sätze gewechselt. In seinen Augen war die
Patrona eine lichte Sommererscheinung, fern der brutalen
Plackereien des Lebens und von gänzlich anderer Art als alle
Frauen, die er kannte. Selbst wenn sie die Hände im Brotteig
hatte oder ihre Schürze blutig war von der Henne fürs
Mittagessen, erschien sie ihm noch wie eine Luftspiegelung im
heißen Glanz des Tages. Nur am Abend, in der Ruhe dieser
kurzen Zeitspanne, die sie gemeinsam beim Tee verbrachten,
konnte er sie in ihrer menschlichen Dimension sehen. Insgeheim
hatte er ihr die Treue geschworen, und manchmal schwärmte er
wie in Jünglingsjahren bei dem Gedanken, sein Leben für sie
hinzugeben. Er schätzte sie ebensosehr, wie er Esteban Trueba
haßte.
Als das Telefon eingerichtet wurde, war das Haus noch längst
nicht bewohnbar. Vier Jahre lang hatte Esteban Trueba bei den
Behörden um dieses Telefon gekämpft, und als es angelegt
wurde, war kein Dach da, es gegen die Witterung zu schützen.
Der Apparat hielt auch nicht lange, diente aber immerhin dazu,
einige Male die Zwillinge anzurufen und unter dem
ohrenbetäubenden Surren und den Unterbrechungen durch das
Telefonfräulein im Dorf, das an dem Gespräch teilnahm, ihre
Stimmen zu hören, als kämen sie von einer anderen Galaxis.
Durch das Telefon erfuhren sie, daß Bianca krank war und die
Nonnen sie nicht länger bei sich behalten wollten. Das Mädchen
leide an einem hartnäckigen Husten und häufigen
Fieberanfällen. Die Angst vor Tuberkulose herrschte damals in
allen Häusern, es gab keine Familie ohne einen Lungenkranken.
So beschloß Clara, sie zu holen. An dem Tag, an dem sie
abreiste, zertrümmerte
Esteban Trueba das Telefon mit
Stockschlägen, weil es zu läuten begann, und er schrie, ich
komme schon, willst du still sein, der Apparat aber weiterläutete
und er in einem Wutanfall mit dem Stock über ihn herfiel, wobei
er sich nebenbei das Schlüsselbein verrenkte, das Pedro Garcia
der Alte ihm mit solcher Mühe geflickt hatte.
Es war das erste Mal, daß Clara allein reiste. Jahrelang war sie
dieselbe Strecke gefahren, aber immer zerstreut, weil stets
jemand da war, der sich um die prosaischen Details kümmerte,
während sie träumerisch die Landschaft vor dem Fenster
betrachtete. Pedro Segundo García brachte sie an den Bahnhof
und half ihr, sich auf ihrem Platz im Zug einzurichten. Als er
sich von Clara verabschiedete, beugte sie sich vor, küßte ihn auf
die Wange und lächelte. Er hob die Hand an die Wange, um
diesen flüchtigen Kuß vor dem Wind zu bewahren, und lächelte
nicht, weil ihn Traurigkeit überkam.
Mehr aus Intuition denn durch Kenntnis der Dinge oder Logik
fand Clara ohne Zwischenfälle die Schule ihrer Tochter. Die
Mutter Oberin empfing sie in ihrem spartanischen Büro, in dem
ein großer, blutüberströmter Christus an der Wand hing und ein
aus dem Rahmen fallender Strauß roter Rosen auf dem Tisch
stand.
»Wir haben den Arzt kommen lassen, Señora Trueba«, sagte
sie. »Das Mädchen hat nichts an der Lunge, aber es ist besser,
Sie nehmen sie mit, auf dem Land wird sie sich wohl fühlen.
Wir können die Verantwortung nicht tragen, wie Sie verstehen
werden.« Die Nonne schwenkte eine kleine Glocke, und Bianca
trat herein. Sie sah mager und blaß aus, und die violetten Ringe
unter ihren Augen hätten auf jede Mutter Eindruck gemacht,
aber Clara wußte sofort, daß die Krankheit ihrer Tochter nicht
körperlicher, sondern seelischer Art war. Die scheußliche graue
Uniform ließ sie schmächtiger erscheinen, als sie war, obwohl
ihre weiblichen Formen fast die Nähte sprengten. Bianca war
überrascht, als sie ihre Mutter sah, die in ihrer Erinnerung ein
heiterer und zerstreuter weißgekleideter Engel war und die sich
innerhalb weniger Monate in eine tatkräftige Frau mit Schwielen
an den Händen und tiefen Falten an den Mundwinkeln
verwandelt hatte.
Sie besuchten die Zwillinge in ihrem
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