Das Geloebnis
den Inseln im Süden waren die Weißen wieder und wieder geschlagen worden, und jetzt saßen sie wie gejagte Tiere in den Höhlen der Berghänge. Dann kam ganz plötzlich eines Tages der Befehl von oben, und binnen einer Stunde wußten alle, daß am nächsten Morgen der große Marsch beginnen würde.
In dieser Nacht fand Mayli in ihrem Häuschen keinen Schlaf. Ein paarmal verließ sie das Bett, um ihre Ausstattung zu prüfen. Alles lag sorgfältig geordnet auf dem Stuhl bereit, die schweren Stiefel, die Uniform, die wie die eines Soldaten war, eine Pistole, ihr Tornister. Einmal machte sie den Tornister auf und zählte alles nach, was er enthielt. Sie hatte sich einen Gürtel mit Taschen fürs Geld verfertigt, den sie unter dem Rock trug.
Mitten in der Nacht wurde die Tür geöffnet, und Liu Ma stahl sich herein. Sie trug ein Beutelchen bei sich, nicht viel größer als ihre Handfläche, das sie Mayli gab.
»Was, wenn du einen Knopf verlierst?« flüsterte sie feierlich. »Ein kleines Ding kann großes Ungemach verursachen.«
Mayli nahm das Beutelchen an sich; darin fand sie kurze chinesische Nadeln, mehrere Meter lange, feine, starke Seidenfäden, die auf kleinen Papierspulen aufgewunden waren, ein sehr scharfes Scherchen, zwei messingne Fingerhüte, einige fremdländische Beinknöpfe, sechs fremdländische Sicherheitsnadeln – wo mochte Liu Ma alle diese Luxusgegenstände aufgetrieben haben?
»Daran habe ich überhaupt nicht gedacht«, sagte Mayli. »Tatsächlich brauche ich das gerade sehr.«
»Wie solltest du auch an so etwas Kleines denken, wenn ich immer alles für dich nähe?« gab die Alte zurück. »Aber wer weiß, ob du mich jemals wieder nötig haben wirst?« Bei diesen Worten brach sie in lautes Schluchzen aus. »Du bist für mich ein mühsames Kind, aber es wird noch mühsamer sein, ohne dich zu leben!«
»Ich komme zurück«, versicherte Mayli ihr. »Du mußt hier auf mich warten und nach allem sehen. Ich komme zurück, das verspreche ich dir.«
»Nur der Himmel kann Versprechen erfüllen«, sagte die Alte und ging hinaus, sich die Augen mit dem Zipfel ihrer Jacke wischend.
In der Dunkelheit lag Mayli wieder in ihrem Bett. Jetzt, da sie im Begriff stand, Abschied zu nehmen – wirklich vielleicht für immer –, schien ihr Gemüt vollkommen verwirrt. Warum ging sie überhaupt? Dieser Entschluß war ursprünglich teils aus müßiger Einsamkeit entstanden, teils aus ihrer widerstrebenden Liebe zu Sheng, teils aus dem echten Verlangen, ihrem Vaterland nützlich zu sein. Jetzt waren alle diese Teile ein Ganzes geworden. Sie ging wirklich. Sie wußte, daß Burma für China das einzige Tor zur übrigen Welt geworden war. Das Tor mußte offengehalten werden, denn nur durch dieses Tor konnte Hilfe gegen den Feind kommen.
Der Vorsatz, das Tor von Burma offenzuhalten, war tatsächlich in jedem Soldaten jener drei Divisionen lebendig; er glühte in den Herzen aller Menschen – ganz gleich, ob Mann oder Frau –, die sich am folgenden Tag in der Morgendämmerung auf den Weg machten. Durch dieses gemeinsame Ziel wurden sie fester miteinander verbunden als eine Familie, und sie alle fühlten die enge Verbundenheit. Doch wer faßte sie in Worte? Der Aufbruch ging vonstatten wie jeglicher andere Aufbruch, mit einem Durcheinander von Lärm und knappen Befehlen, von Klagen über zu schwere Lasten, mit geringfügigem Eigensinn und plötzlichen Streitigkeiten. Zuerst wurden die Wagen beladen, die so weit wie möglich fahren sollten. Kisten und Frauen kamen in die Wagen und dann Männer, so viele der Raum faßte. In jedem Wagen wurde einem Mann ein Plan mitgegeben, auf dem die Route verzeichnet war sowie die Stelle, wo alle am Ende der Straße aufeinander warten mußten.
Mayli stand in ihrer steifen Tuchuniform, den Tornister auf dem Rücken, aufbruchbereit an der Spitze ihrer jungen Frauen. Sie waren alle gleich gekleidet, und in ihrem Ernst ähnelten sich die jungen Gesichter in seltsamer Weise. Neben Mayli standen ihre vier Gehilfinnen, deren Herzen wie ihres vor Aufregung, Bangen und Siegeswillen heftig klopften. Siu-chens rundes, rotwangiges Antlitz ähnelte dem eines Kindes, und An-lan war noch blasser als gewöhnlich. Chi-ling, die junge Witwe, sah traurig und ein wenig müde aus, als hätte der Marsch schon begonnen. Hsieh-ying hingegen, das Mädchen, das schon so viel durchgemacht hatte, lächelte und war fröhlich; ihre schwarzen Augen blitzten, und ihre Lippen waren rot, weil sie
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