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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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über sie hinweg, ohne sie zu berühren. Staub tanzte darin. Es sah aus, als trennte uns eine flirrende Barriere aus Licht.
    »Der Siebenköpfige«, flüsterte sie wie betäubt. »Ich kann seinen Hahnenschrei hören.«
    Wenig später schlief sie ein.

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    12

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    Die Dunkelheit war längst hereingebrochen, als der Abbé mich in seinem Quartier empfing. Die stickige Dachstube war nur über zwei steile Treppen zu erreichen. Trotzdem schien der alte Mann zufrieden in seiner Armut, erlaubte sie ihm doch, seine mageren Einkünfte für Annas Versorgung aufzuwenden.
    Auf einem schlichten Holztisch in der Mitte der Kammer brannte eine einzelne Kerze. Der Abbé mußte mir mein Mitleid angesehen haben, denn nachdem er mir einen Platz auf einem wackligen Schemel angeboten hatte, sagte er: »Der Priester eines Herzogs ist keiner seiner Bediensteten, dementsprechend erhält er auch keine Rente von ihm.« Er zuckte die Achseln und schmunzelte versöhnlich. »Und die Kirche war noch nie ein spendabler Dienstherr.«
    Er ließ sich ächzend auf einem zweiten Hocker nieder, so daß wir uns am Tisch gegenübersaßen. Die Branntweinflasche, die ich mitgebracht hatte, stellte ich zwischen uns. Der Abbé verlor kein Wort darüber. Nach einem Augenblick des Schweigens stand er auf, holte zwei Tonbecher und füllte sie stumm.
    Der Schein der Kerze war so schwach, daß die Wände der Dachstube in völliger Finsternis lagen. Erst als sich meine Augen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, konnte ich im Schatten die Umrisse eines Bettes und einer Kleiderkiste ausmachen, daneben ein dichtbestücktes Bücherregal; weitere Bände waren überall auf dem Boden gestapelt.
    »Hören Sie auf, mich zu bedauern«, verlangte er erheitert.

Das gleiche hatte auch Anna zu mir gesagt. »Ich weiß, daß Sie aus reichem Hause stammen, Herr Brentano, aber Sie sollten unser Leben hier nicht nach Ihren Maßstäben bemessen. Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Mit meiner Kammer, meinen Büchern…«
    Und mit Anna.
    »Es ist schon spät«, sagte er. »Verraten Sie mir den Grund Ihres Besuches? Was gibt es so Wichtiges, daß wir es noch nicht heute morgen auf dem Marktplatz besprochen hätten?«
    »Ich habe Sie mit Limberg und Wesener gesehen«, sagte ich geradeheraus. Das war keine Antwort auf seine Frage, aber ich war gespannt, wie er darauf reagieren würde.
    Der Abbé nickte nur. »Sie kamen zufällig vorbei.«
    »Wollten sie wissen, worüber wir gesprochen haben?«
    Mit einem Kichern beugte er sich über die Tischplatte zu mir vor. Einen Moment lang fürchtete ich, seine wirren weißen Haarsträhnen könnten an der Kerze Feuer fangen. »Sie halten mich doch nicht etwa für dumm, mein Lieber?« Die Flamme spiegelte sich in seinen Augen, ließ sie gelb aufblitzen.
    »Natürlich weiß ich ebensogut wie Sie, daß die beiden nur aus dem einen Grund aufgetaucht sind, um mich auszuhorchen.«
    »Was haben Sie ihnen gesagt?«
    »Die Wahrheit. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir über irgend etwas Geheimes gesprochen hätten.«
    »Tut mir leid«, sagte ich und nahm einen tiefen Zug aus meinem Becher. »Ich bin nur müde.«
    »Dann sollten Sie schlafen, wie jeder vernünftige Mensch es um diese Uhrzeit tut.«
    »Ich bin hergekommen, um Sie etwas zu fragen.«
    »Nur zu.«
    »Haben Sie je von einem Wesen gehört, das sich der Siebenköpfige nennt?«
    Ohne lange nachzudenken, schüttelte er den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte.«
    »Es könnte in der Bibel auftauchen«, bohrte ich weiter.
    »Möglicherweise im Zusammenhang mit der Mutter Gottes.
    Bitte, es ist wirklich wichtig.«
    »Dann hat Anna es erwähnt?«
    Zwecklos, das abzustreiten, daher nickte ich.
    »Wie ist sie darauf gekommen?«
    »Ich weiß es nicht mehr«, log ich und war ziemlich sicher, daß er den Schwindel durchschaute. Ich leerte schnell meinen Becher, um ihn nicht ansehen zu müssen, und füllte eilig wieder nach.
    Er beäugte mich argwöhnisch, aber auch mit einem Hauch von Heiterkeit. »Sie kann einen mit ihren Visionen ganz schön überfordern, wenn man mit dem Ensemble der Bibel nicht vertraut ist.«
    Ich brachte ein verlegenes Lachen zustande. »Anna nimmt darauf nicht allzuviel Rücksicht.«
    »Nun«, meinte er grübelnd, »lassen Sie mich noch einmal überlegen. Ein Siebenköpfiger, sagten Sie?«
    Ich nickte und trank.
    »Im Zusammenhang mit der Heiligen Jungfrau, also.« Auch er nahm jetzt seinen Becher, drehte ihn aber nur geistesabwesend in der Hand. »Nun, um

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