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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ehrlich zu sein, Marias Schicksal nimmt in der Bibel keinen allzu großen Stellenwert ein – gerade deshalb interessiert sich ja jeder katholische Theologe diesseits und jenseits der Grenze für Annas Visionen. Mehr als einer hat versucht, daraus einen Lebensweg der Jungfrau Maria zu rekonstruieren.« Er stellte den Becher ab und klopfte ein paarmal mit seinem Stock auf den Dielenboden. Offenbar half ihm das beim Nachdenken.
    »Es ist also durchaus möglich, daß dieser Siebenköpfige unserer Anna in einer ihrer Visionen erschienen ist und gar keine Entsprechung im Alten oder Neuen Testament hat.«
    Die Kerze stand ein wenig schief, so daß ihr Wachs in einer Pfütze auf der Tischplatte erstarrte. Der Abbé kratzte gedankenverloren mit einer Fingerspitze daran, formte kleine Wachskügelchen und rollte sie über die Tischkante in die Tiefe. Plötzlich blickte er auf, unsere Blicke kreuzten sich.
    »Haben Sie eigentlich Anna selbst danach gefragt?«
    »Ich habe mich geschämt, um ehrlich zu sein.«
    »Seltsam«, sagte er mit hintergründigem Schmunzeln. »Sie machen sonst gar nicht den Eindruck, als könnte Sie etwas Derartiges so schnell in die Bredouille bringen.«
    Ich wünschte mich auf schnellstem Wege zurück in mein Gasthofzimmer. Nicht nur Anna und Limberg, sogar dieser alte Mann durchschaute mich ohne jede Mühe. Ich trank meinen Becher in einem Zug leer.
    Da erhellte sich schlagartig seine Miene. »Ah, jetzt weiß ich!
    Diesen Siebenköpfigen muß sie meinen!« Er atmete so hastig aus, daß die Kerze bedenklich flackerte und beinahe erloschen wäre. »Mein Junge, gehe ich recht in der Annahme, daß Sie niemals die Offenbarungen des Johannes gelesen haben?«
    »Tut mir leid.« Mein Herz schlug schneller, und das kam nicht allein vom Branntwein.
    »Lassen Sie mich Ihnen etwas erklären. Das heißt…« Er stand ruckartig von seinem Hocker auf, ohne den Satz zu beenden, und trat an sein Bücherregal.
    Schon bald darauf saß er wieder am Tisch und blätterte in einer kostbaren Bibel, reich illustriert und mit goldenen Blattkanten versehen. Hätte er dieses Schmuckstück verkauft, so hätte er vom Erlös wahrscheinlich ein weit besseres Quartier als dieses ein ganzes Jahr lang unterhalten können.
    Im hinteren Teil der Schrift fand er die richtige Stelle.
    »Hören Sie, hier, der Beginn des zwölften Kapitels der Offenbarung.« Seine Stimme änderte sich, als fände sie zurück in eine alte, fast vergessene Tonlage. Klangvoll, so wie er einst die Predigt von der Kanzel verkündet hatte, begann er vorzulesen: »Und es erschien ein großes Zeichen, am Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone aus zwölf Sternen. Und sie war schwanger und schrie in Kindesnöten und hatte große Qual bei der Geburt. Und es erschien ein anderes Zeichen am Himmel, und siehe, ein großer roter Drache, der hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Häuptern sieben Kronen, und sein Schwanz fegte den dritten Teil der Sterne des Himmels hinweg und warf sie auf die Erde. Und der Drache trat vor das Weib, die gebären sollte, auf daß, wenn sie geboren hätte, er ihr Kind fräße. Und sie gebar einen Sohn, ein Knäblein, der alle Völker sollte weiden mit eisernem Stabe.
    Und ihr Kind ward entrückt zu Gott und seinem Thron. Und das Weib entfloh in die Wüste…«
    Der Abbé las einen Augenblick lautlos weiter, während ich den nächsten Becher austrank. Schließlich schaute er auf und erklärte: »Darauf folgt eine Stelle, in der der Erzengel Michael den Kampf gegen den siebenköpfigen Drachen aufnimmt, ihn niederschlagen, aber nicht endgültig besiegen kann. Dann kommt der Satz: Und da der Drache sah, daß er geworfen war auf die Erde, verfolgte er das Weib, die das Knäblein geboren hatte.
    Nach einem weiteren Zwischenspiel endet das Ganze mit den Worten: Und der Drache ward zornig über das Weib und ging hin, zu streiten wider die übrigen von ihrem Geschlecht, die da Gottes Gebote halten und haben das Zeugnis Jesu.«
    Ich versuchte ihn anzusehen, doch immer wieder wurde mein Blick von der Kerzenflamme eingefangen, als wollte sie mir einen Vorgeschmack auf das Fegefeuer geben, das Anna mir und allen Ungläubigen prophezeit hatte. »Dieses Weib, von dem da die Rede ist, ist das Maria?« fragte ich. Mir schwindelte ein wenig.
    »Marias Name wird nicht erwähnt, deshalb kam ich nicht gleich auf diese Stelle, als Sie von einem Zusammenhang zwischen ihr und dem

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