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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihrer Korbkrippe und schaute mich an. Die Strahlen der Morgensonne fielen durchs Fenster, ohne sie zu berühren. Ihr Aufruhr vom gestrigen Nachmittag hatte sich gelegt, aber sie wirkte betrübt und sehr einsam.
    »Hören Sie es auch?« fragte sie. »Es ist, als ob das Haus mit mir reden wollte. Die Dachziegel ächzen, während sie mit jedem Jahr ein wenig tiefer rutschen. Holzwürmer nagen sich durch die Balken. Die Böden stöhnen unter dem Gewicht der Möbel. Oben auf dem Speicher weht ein Luftzug Staub auf, er dreht sich wie eine Ballerina um sich selbst, ein leichtfüßiger, grauer Wirbel. Glauben Sie mir, ich kann es hören! Ich habe noch nie eine Ballerina gesehen, wissen Sie, aber ich weiß, wie eine aussieht. Wesener hat sie mir beschrieben. Da, horchen Sie nur! Gertrud spült das Geschirr, sie summt ein Lied. Und in der Backstube hat eben ein Lehrjunge in der Nase gebohrt und knetet jetzt mit den Fingern den Teig. Ich hab’s an seinem Atem gehört.«
    »Ich glaube, es kommen zu wenige Menschen, die mit Ihnen sprechen«, entgegnete ich sanft. Aber es war nicht nötig, sie zu beruhigen. Sie war völlig gelassen, und was sie sagte, war ihr ernst und wichtig.
    Sie schüttelte sachte den Kopf. »Die Dinge haben eigene Stimmen. Wenn man lange genug auf sie horcht, kann man sie verstehen. Manche von ihnen.«
    »Trotzdem würde es Ihnen guttun, mehr Stimmen von Menschen zu hören.«
    »Kommen Sie schon«, meinte sie verdrossen, »seien Sie nicht so ein elender Schulmeister. Warum gönnen Sie mir nicht das bißchen Gesellschaft, das ich hier finde?«
    »Ich gönne Ihnen mehr als nur das«, sägte ich ernsthaft.
    »Aber was könnte Ihnen ein Haus schon erzählen?«
    »Sie sind der Dichter. Sollten Sie mir nicht eine Antwort darauf geben können?«
    Verunsichert deutete ich auf das Fensterbrett, wo die beiden Lerchen saßen und Brotkrumen aufpickten. »Sie sind also tatsächlich zurückgekommen.« Ich sah wieder die Blätter vor mir, das wirbelnde, tote Laub, das auf die Vögel eingestürzt war. Was hatte ich erwartet? Daß es die beiden zu Boden drückte? Meine Erwartungen waren in dieser Kammer ohne Bedeutung. Die Welt warf um sie herum eine Falte, verzerrte sich unmerklich. Blickte man von hier drinnen nach draußen, sah alles ein wenig anders aus als sonst. Der Grund dafür war Anna. Eine Magie, die von ihr ausging, in jedes Ding, jedes Wort, jedes Gefühl ihre Spuren drückte und alles und jeden verändert zurückließ. Bald würde auch ich auf die Stimmen von Häusern horchen. Und auf das ferne Geschrei eines Hahnes.
    »Ich möchte Ihnen etwas gestehen.« Ich hatte lange darüber nachgedacht, auch nachdem ich wieder nüchtern war. Der Entschluß war mir nicht leichtgefallen.
    Ein Schatten von Heiterkeit tanzte um ihre Mundwinkel.
    »Waren wir uns nicht einig, daß ich die Geständnisse mache.«
    »Es hat, glaube ich, viel mit Ihnen zu tun.«
    Sie legte den Kopf schräg und hörte aufmerksam zu. Sagte kein Wort, wartete nur, daß ich fortfuhr.
    »Ich hatte einen Traum, vor zwei Nächten. Ich glaube zumindest, daß es ein Traum war.«
    »Jetzt haben Sie schon zweimal gesagt, daß Sie etwas glauben. Das klingt seltsam aus ihrem Munde.«
    Ich rang mir ein Lächeln ab. »Wollen Sie nun hören, was ich geträumt habe?«
    »Häuser träumen auch, wußten Sie das?« Sie nickte mir aufmunternd zu. »Egal, erzählen Sie.«
    Ich verheimlichte ihr nichts. Wortreich, aber auch ein wenig verschämt, schilderte ich ihr die wundersame Erscheinung, beschrieb ihr die schwarzen Gewänder der Frau, ihr langes, dunkelbraunes Haar, aber auch, daß ich nie ihr Gesicht gesehen hatte. Ich gestand ihr die Empfindungen, die mich bei diesem Anblick überkommen hatten, versuchte, ihr zu beschreiben, was für ein Gefühl es war, als ich ihr Haar berührte und ihre Hände, selbst durch den Stoff hindurch.
    Während meines Berichts entstand vor meinen Augen erneut das Abbild der Unbekannten. Erst als ich zum Ende kam, und die Vorstellung allmählich verblaßte, sah ich, daß mit Anna eine Veränderung vorgegangen war; ich war nicht sicher, ob es eine Wandlung zum Besseren war.
    Alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen; ihre Haut, ohnehin sehr bleich, hatte jetzt eine leichenhafte Blässe angenommen. Im Gegensatz dazu stand das Lächeln auf ihren Lippen. Sogar ihre Augen sahen aus, als lachten sie. Dann aber schwand ihr Frohsinn auf einen Schlag, und von einer Sekunde zur anderen las ich tiefes Mißtrauen in ihrer Miene.
    »Sie haben das nicht

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