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Das Gelübde

Titel: Das Gelübde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erfunden, oder?« fragte sie argwöhnisch. »Sie erzählen mir nicht nur solche Sachen, um mich zu beruhigen?«
    »Glauben Sie wirklich, ich würde Sie belügen?«
    Sie blickte mich lange an, suchte in meinen Augen nach Beweisen, nach einer Bestätigung ihrer Zweifel. Schließlich aber senkte sie für einen Moment die Lider, schien in sich zu gehen. »Ich glaube Ihnen«, flüsterte sie tonlos, nur um plötzlich mit erneutem Lächeln hinzuzufügen: »…glaube ich zumindest.«
    »Warum sind Sie nur so mißtrauisch?«
    »Die Frau, die Sie beschrieben haben«, sagte sie mit flattriger Stimme, »sieht aus wie die Maria in meinen Visionen. Meine erste Begegnung mit ihr verlief auf die gleiche Weise wie Ihre.«
    »Woher hätte ich das wissen sollen?«
    »Niemand weiß davon. Deshalb glaube ich Ihnen, Pilger.«
    Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie mir vertraut hätte, aber vielleicht war das zuviel verlangt. »Sie meinen also allen Ernstes, diese Frau in meinem Traum war Maria?« Die Vorstellung war so absurd, daß sie hier, in dieser Kammer, fast schon wieder naheliegend erschien.
    Anna blieb sehr ernst, als sie sagte: »Sie war es! Es war die gleiche Vision!«
    Mit Vernunft und klarem Menschenverstand würde ich sie nicht überzeugen können. »Aber ich glaube nicht an Gott! Ich glaube nicht an den Heiland und nicht an die jungfräuliche Empfängnis! Die Mutter Gottes weiß genau, weshalb sie ausgerechnet einen Menschen wie Sie wählt, Anna, um sich zu offenbaren.«
    »Und dennoch wurden auch Sie von ihr auserkoren.« Ihre Stimme war voller Begeisterung, beinahe überschwenglich.
    Bei keinem meiner bisherigen Besuche hatte ich sie derart übermütig erlebt. »Deshalb sind Sie mir damals erschienen!«
    rief sie aus. »Es stimmte, was ich Ihnen zu Anfang sagte: Wir beide sind verwandte Seelen. Ihr Traum, Ihre Vision ist der Beweis dafür!«
    »Gut«, sagte ich, nur äußerlich resigniert. »Falls es wirklich so ist, wie Sie sagen, wie wollen wir dann damit umgehen?
    Was erwarten Sie, wie ich damit umgehe?«
    Ihrer Freude war auch durch Sachlichkeit kein Einhalt zu gebieten. »Jetzt, wo ich weiß, daß Sie das gleiche erlebt haben, kann ich Ihnen endlich alles erzählen. Sie werden mich verstehen, jetzt noch viel besser als vorher.«
    »Sie wissen, daß Sie mir vertrauen können. Das konnten Sie von Anfang an.«
    Eigentlich hatte ich ihr von dem Traum erzählt, weil ich ihr zeigen wollte, daß auch andere solche Visionen hatten wie sie selbst. Ich hatte gehofft, es würde sie beruhigen, vielleicht ihre Schuldgefühle mindern. Statt dessen aber steigerte sie sich nur noch tiefer in diesen Wahn hinein, und ich war nicht sicher, ob ich wirklich ein Teil davon sein wollte.
    »Wollen Sie mir zuhören?« fragte sie, nach außen hin ein wenig ruhiger geworden. Aber ich sah ihr an, daß sie unter der Oberfläche vor Aufregung vibrierte.
    »Natürlich will ich das«, sagte ich und war keineswegs überzeugt, ob ich es tatsächlich wollte. Aber war ich nicht zu ihr zurückgekehrt, um zuzuhören? Nun, dann tu es gefälligst, dachte ich. Tu, was du von der ersten Minute an gewollt hast!
    Jetzt kannst du ihr beweisen, daß du ihr Vertrauen verdient hast.
    »Meine erste Begegnung mit Maria liegt Jahre zurück«, begann sie stockend. Ihre Augen zuckten unruhig hierhin und dorthin, ohne ein einziges Mal meinen Blick zu kreuzen. Ich dagegen schaute fest in ihr Gesicht, zog jede Faser ihrer asketischen Anmut mit meinen Augen nach wie ein Maler die Züge eines Portraits mit Farbe und Pinsel. »Ich war noch sehr jung damals, noch nicht so vertraut mit dem Kommen und Gehen meiner Gesichte. Als ich Maria vor mir erblickte, war mein erster Gedanke, daß ich meinen Schutzengel nirgends entdecken konnte. Nie zuvor hatte er mich während einer meiner Visionen alleingelassen! Und nun stand ich da, an diesem Ort, der eigentlich gar keiner war, denn ich nahm nichts um uns wahr, keine Landschaft, keine Wände. Die Heilige Jungfrau stand genauso da, wie Sie sie beschrieben haben, mit dem Rücken zu mir. Nur die Blätter, die Sie sahen, waren nicht da. Auch ich spürte, wie es mich zu ihr zog, ich wollte sie berühren, wollte sie spüren, wollte einfach nur bei ihr sein. Später, nachdem sie sich zurückgezogen hatte und ich wieder allein war, allein in meiner Kammer, da versuchte ich mir einzureden, daß es eine göttliche Anziehung gewesen war, die mich zu ihr getrieben hatte. Aber nachdem es ein zweites Mal geschah, und danach immer wieder und immer

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