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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Schließlich pflückten sie noch ein paar Shiso -Blätter – diese wohlschmeckende Pflanze stammte von den Japanern.
    Bald brodelte es im Topf, Ga rührte die Wildkräuter um, und auf der Oberfläche schwammen drei Fettaugen vom Fisch. »Das hier«, sagte Ga, »ist für mich das beste Essen der Welt. Im Gefängnis waren wir immer am Rande des Hungertods. Arbeiten konnte man noch irgendwie, denken nicht mehr. Man versuchte, sich an ein Wort oder eine Idee zu erinnern, aber es war alles weg. Wenn man Hunger hat, verliert man jedes Zeitgefühl. Man schuftet und schuftet, und dann ist es dunkel, und man erinnert sich an nichts. Aber wenn wir zum Holzfällen eingeteilt wurden, konnten wir uns diese Suppe kochen. Nachts haben wir uns eine Fischfalle gebaut, und während wir dann am nächsten Tag gearbeitet haben, sammelten sich die Elritzen in der Falle. In den Bergen wuchsen überall wilde Kräuter, und jede Schale Suppe hieß: eine Woche länger überleben.«
    Er probierte die Suppe – sie schmeckte noch bitter. »Braucht noch etwas«, sagte er. Sein nasses Hemd hing in einem Baum.
    »Und was ist mit deinen Eltern?«, wollte Sun Moon wissen. »Ich dachte, die Eltern müssen mit, wenn man ins Arbeitslager geschickt wird.«
    »Das stimmt, aber das spielte in meinem Fall keine Rolle. Da haben meine Eltern wohl doch einmal Glück gehabt«, sagte er. »Und was ist mit deinen Eltern? Wohnen sie auch hier in der Hauptstadt?«
    »Ich habe nur noch meine Mutter.« Sun Moons Stimme klang bedrückt. »Sie ist an der Ostküste. Sie hat sich in Wŏnsan zur Ruhe gesetzt.«
    »Ah, ja«, nickte er. »Wŏnsan.«
    Sie schwieg. Er rührte in der Suppe, in der die Kräuter allmählich nach oben stiegen.
    »Und wie lange ist das her?«, erkundigte er sich.
    »Ein paar Jahre«, antwortete sie.
    »Und sie ist wahrscheinlich zu beschäftigt, um dir zu schreiben?«, sagte er.
    Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu durchschauen. Sie sah ihn erwartungsvoll an, als hoffe sie, dass er sie beruhigen würde. Doch tief in ihren Augen lag eine düstere Ahnung.
    »Ich würde mir keine Sorgen machen. Es geht ihr sicher gut«, tröstete er sie.
    Sun Moon wirkte nicht getröstet.
    Er versuchte es noch einmal. »In Wŏnsan gibt es viele schöne Dinge. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen«, versicherte er ihr. »Der Sand ist besonders weiß. Und die Wellen sind schön blau.«
    Sun Moon starrte in Gedanken versunken in den Kochtopf.
    »Hör also nicht auf die Gerüchte, ja?«, bat er sie.
    »Welche Gerüchte?«, fragte sie.
    »Na siehst du. So lob ich’s mir«, sagte er.
    Im Straflager 33 wurden einem Menschen nach und nach sämtliche Illusionen genommen, bis schließlich auch die grundlegendsten, auf denen man seine Identität aufgebauthatte, ins Wanken gerieten und zusammenbrachen. Für Kommandant Ga kam dieser Augenblick bei einer Steinigung. Die Steinigungen wurden am Fluss durchgeführt, an dessen Ufer runde, vom Wasser glatt geschliffene Steine lagen. Wer auf der Flucht erwischt wurde, den gruben die Wärter bis zum Bauch ein; bei Sonnenaufgang zog dann eine langsame, schier endlose Prozession von Häftlingen an ihm vorbei. Ausnahmen wurden nicht gemacht – jeder musste werfen. Warf man zu schwach, brüllten die Wachen, man solle sich gefälligst anstrengen, aber man musste nicht noch einmal werfen. Dreimal hatte Ga es schon mitgemacht, allerdings weit hinten in der Reihe, sodass er weniger einen Menschen steinigte als eine formlose, unnatürlich vornübergebeugte Masse, die nicht einmal mehr dampfte.
    Doch wie es der Zufall wollte, war er eines Morgens weiter vorne in der Reihe. Über die runden Steine zu balancieren war gefährlich für Mongnan. Sie brauchte jemanden, der sie am Arm hielt, und hatte ihn früh geweckt, sodass sie weit vorn standen. All das machte ihm nichts aus, bis ihm plötzlich klar wurde, dass der Mann, den sie steinigen mussten, noch bei Bewusstsein sein würde. Der Stein war kalt in seiner Hand. Er hörte, wie die Steine vor ihnen ihr Ziel trafen. Er stützte Mongnan, während sie sich dem halb eingegrabenen Mann näherten, der sich mit erhobenen Armen zu schützen versuchte. Er wollte sprechen, doch es kamen keine Worte, und aus seinen Wunden strömte noch warmes Blut.
    Als Ga näher kam, sah er die Tätowierungen des blutenden Mannes und brauchte einen Augenblick, bis er merkte, dass es kyrillische Buchstaben waren. Und dann sah er das Gesicht der Frau, das in seine Brust eintätowiert war.
    »Kapitän!«, schrie er und ließ

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