Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
seinen Stein fallen, »Kapitän, ich bin’s!«
Der Blick des Kapitäns zeigte, dass er ihn erkannt hatte, aber er bekam keine Worte heraus. Seine Hände bewegten sich noch, als versuche er, unsichtbare Spinnweben wegzuwischen. Beim Fluchtversuch hatte er sich offenbar die Fingernägel zerrissen.
»Nein«, rief Mongnan, als er ihren Arm losließ, sich neben den Kapitän kauerte und die Hand des alten Seemanns nahm. »Ich bin’s, Kapitän, von der Junma «, sagte er.
Nur zwei Wachsoldaten waren da, junge Männer mit harten Gesichtern und uralten Gewehren. Sie fingen an zu brüllen, hart hervorgestoßene Worte, aber er ließ die Hand des alten Mannes nicht los.
»Der Dritte Maat«, sagte der Kapitän. »Ich hab’s dir gesagt, mein Junge, ich beschütze euch. Ich habe meine Mannschaft wieder einmal gerettet.«
Wie der Kapitän in seine Richtung blickte, ihn aber dennoch nicht fand, war fürchterlich.
»Du musst hier raus, Sohn«, sagte der Kapitän. »Egal wie, du musst hier raus.«
Ein Warnschuss fiel, und Mongnan stürzte zu ihm und flehte ihn an, in die Reihe zurückzukommen. »Du willst doch nicht, dass dein Freund sieht, wie du erschossen wirst«, sagte sie. »Du willst doch nicht, dass das das Letzte ist, was er sieht.«
Mit diesen Worten zerrte sie ihn zurück in die Reihe. Die Wächter waren außer sich, bellten Befehle, und Mongnan musste sie fast überschreien. »Wirf deinen Stein«, befahl sie ihm. »Du muss ihn werfen.« Und als wolle sie mit gutem Beispiel vorangehen, verpasste sie dem Kapitän einen harten, halben Treffer am Kopf. Eine Haarlocke löste sich und flog im Wind davon. »Jetzt!«, befahl sie, und er holte mit seinem schweren Stein aus und traf den Kapitän mit aller Macht an der Schläfe, und das war das Letzte, was der Kapitän sah.
Hinterher, hinter den Regenfässern, brach er zusammen.
Mongnan half ihm auf den Boden und hielt ihn im Arm.
»Warum war es nicht Gil?«, schluchzte er. Er weinte hemmungslos. »Der Zweite Maat, das hätte ich verstanden. Oder Offizier So. Aber nicht der Kapitän. Er hat immer alle Vorschriften befolgt. Warum er? Warum nicht ich? Ich habe nichts auf der Welt, gar nichts. Warum musste er zweimal ins Gefängnis?«
Mongnan hielt ihn. »Dein Kapitän hat sich gewehrt«, tröstete sie ihn. »Er hat gekämpft und sich seine Persönlichkeit nicht wegnehmen lassen. Er ist frei gestorben.«
Er bekam keine Luft mehr, und sie zog ihn an ihre Brust wie ein Kind. »Ist ja gut. Ist ja gut, mein kleines Waisenkind, mein armer, kleiner Waisenjunge«, sagte sie und wiegte ihn.
Unter Tränen protestierte er: »Ich bin kein Waisenjunge.«
»Natürlich bist du das«, widersprach sie ihm. »Ich bin Mongnan, und ich weiß doch, wie ein Waise aussieht. Natürlich bist du das. Lass einfach alles raus.«
»Meine Mutter war Sängerin«, entgegnete er. »Sie war wunderschön.«
»Wie hieß dein Waisenhaus?«
» Frohe Zukunft. «
»Frohe Zukunft«, wiederholte sie. »War der Kapitän wie ein Vater für dich? Er war ein Vater, oder?«
Er weinte nur.
»Mein armes kleines Waisenkind«, sagte sie. »Für ein Waisenkind ist so ein Vater doppelt so wichtig. Waisen sind die Einzigen, die sich ihren Vater aussuchen dürfen, und sie lieben ihn doppelt so stark.«
Er drückte die Hand an seine Brust und dachte daran, wie der Kapitän das Bild von Sun Moon unter seine Haut gesetzt hatte.
»Ich hätte ihm seine Frau wiedergeben können«, schluchzte er.
»Aber er war nicht dein Vater«, erwiderte sie. Sie nahm sein Kinn und versuchte, seinen Kopf anzuheben, damit er ihr zuhörte, aber er vergrub den Kopf wieder an ihrer Brust. »Er war nicht dein Vater«, sagte sie und strich ihm über die Haare. »Jetzt kommt es darauf an, dass du deine Illusionen aufgibst. Es wird Zeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Zum Beispiel, dass er recht hatte. Du musst hier raus.«
Im Kochtopf lösten sich kleine Fischstückchen von den Gräten, und Sun Moon rührte gedankenverloren. Ga dachte, wie schwierig es war, die Lügen zu durchschauen, die man sich selbst erzählte – die, die einen weitermachen ließen. Um das zu schaffen, brauchte man Hilfe. Ga schnupperte an der Brühe – von diesem perfekten Mahl bekam er einen freien Kopf. Ein solches Mahl bei Sonnenuntergang im Wald zu essen, wenn sie den ganzen Tag in den Schluchten oberhalb von 33 Bäume gefällt hatten – das war Leben in seiner reinsten Form. Er zog Wandas Kamera hervor und machte ein Foto von dem Jungen und dem Mädchen und
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