Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Lebens«, erklärte der Geliebte Führer. »Wusstest du, dass unsere Bevölkerung zu 54 Prozent weiblich ist? Wir haben das erst durch dieses Gerät herausgefunden. Angeblich sind Mädchen eher in der Lage, eine Hungersnot zu überleben. Im Süden ist das Gegenteil der Fall. Dort haben sie ein Gerät, das vorhersagen kann, ob ein Baby ein Mädchen oder ein Junge wird, und die Mädchen werden gar nicht erst zur Welt gebracht. Kannst du dir das vorstellen, ein winziges Mädchen zu töten, ein Ungeborenes im Mutterleib?«
Ga sagte nichts – im Straflager 33 wurden sämtliche Ungeborenen getötet. Alle zwei, drei Monate wurde ein Abtreibungstag angesetzt, da standen dann die schwangeren Insassinnen Schlange, und ihnen wurde nacheinander Salzlösung in den Bauch gespritzt. Die Wärter hatten eine Holzkiste auf Rollen, die stießen sie mit den Füßen umher. Darin landeten die lila angelaufenen, halb ausgebildeten, blind sich windenden Embryos, einer nach dem anderen.
»Aber wir werden das letzte Wort behalten«, verkündete der Geliebte Führer. »Eine neue Version wird gerade programmiert, darin sind auch alle Südkoreaner erfasst, sodass niemand mehr außerhalb unserer Reichweite ist. Das ist die wahre Wiedervereinigung, meinst du nicht? In der Lage zusein, jedem Koreaner, ob im Norden oder im Süden, eine lenkende Hand auf die Schulter zu legen? Bei geschickter Infiltrierung wird es sein, als existiere die DMZ gar nicht. Im Geiste des Geeinigten Korea möchte ich dir ein Geschenk machen. Gib den Namen einer Person ein, die gefunden werden soll, irgendein ungelöster Fall, und es wird sich jemand um ihn kümmern. Na los, gib einen Namen ein. Vielleicht jemand, der dir während des Beschwerlichen Marschs Unrecht getan hat, oder einen Rivalen aus dem Waisenhaus.«
Eine ganze Parade zog an Ga vorüber, all die Menschen, deren Abwesenheit seine Gedanken wie leere Trockendocks besetzt gehalten hatten. Sein Leben lang hatte er die Gegenwart jener Menschen gespürt, die er verloren hatte. Und hier saß er nun vor den gesammelten Schicksalen des gesamten Volkes. Letztendlich gab es nur einen einzigen Menschen, der ihm keine Ruhe ließ und über dessen Schicksal und Aufenthaltsort er unbedingt Bescheid wissen musste. Kommandant Ga legte die Finger auf die Tastatur und tippte ein: »Kommandant Ga Chol Chun.«
Als der Geliebte Führer das sah, geriet er aus dem Häuschen. »Oh, das ist prächtig!«, juchzte er. »Ich fass es einfach nicht! Du weißt, was dieses Gerät tut, nicht wahr, du weißt, was die Eingetippten erwartet? Der Witz ist gut, einfach köstlich. Aber das darf ich leider nicht zulassen.« Der Geliebte Führer drückte auf »Entfernen« und schüttelte den Kopf. »Er hat seinen eigenen Namen eingegeben. Oh, das muss ich heute Abend beim Essen erzählen. Diese Geschichte müssen alle hören – der Kommandant hat seinen eigenen Namen in den Zentralrechner eingegeben!«
Das grüne Licht blinkte Ga an wie ein Pulsieren aus dunkler Ferne.
Der Geliebte Führer klopfte ihm auf die Schulter. »Kommmit, komm«, sagte er. »Eine Sache steht noch an. Du musst für mich dolmetschen.«
*
Als sie die Zelle des Rudermädchens erreichten, hielt der Geliebte Führer vor der Tür inne. Er lehnte sich an die Wand und tickte mit dem Schlüssel an den Beton. »Ich will sie nicht gehen lassen«, gestand er.
Gewiss, es gab ein neues Abkommen, in ein paar Tagen kamen die Amerikaner, und einen Wortbruch würden sie niemals verzeihen. Darauf wies Ga den Geliebten Führer aber nicht hin. Er antwortete stattdessen: »Ich weiß genau, wie Sie sich fühlen.«
»Sie hat keine Ahnung, wovon ich spreche, wenn ich mit ihr rede«, meinte der Geliebte Führer. »Aber das ist in Ordnung. Sie ist wissbegierig, das sehe ich genau. Ich besuche sie jetzt seit einem Jahr. Ich habe schon immer so jemanden gebraucht, jemanden, dem ich alles erzählen kann. Ich stelle mir vor, dass sie sich über meine Besuche freut. Ich denke, mit der Zeit hat sie mich lieb gewonnen. Wie ich mich anstrengen muss, bis sie mir ein Lächeln schenkt! Aber wenn sie es dann endlich tut, dann weiß ich, dass es echt ist.«
Der Geliebte Führer verengte die Augen und starrte ins Leere, als wolle er die Tatsache einfach nicht wahrhaben, dass er das Mädchen unweigerlich aufgeben musste. Ganz genau so sah ein Blick aus, der sich auf das schwappende Wasser am Boden eines Skiffs konzentrierte, denn sobald man ihn wandern ließ – hinüber zum Strand oder auf das Klebeband
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