Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
ich am Leibe trage?«, fragte sie ihn.
Dann huschte ein Gedanke über ihr Gesicht. Sie wandte sich um und trat rasch an ihren Schrank. Dort starrte sie die aufgereihten Chosŏnots an, jeder über einen Kleiderbügel gehängt. Die untergehende Sonne warf warmes, dottergelbes Licht ins Schlafzimmer und erweckte die Kleider mit ihrem goldenen Leuchten zum Leben.
»Wie soll ich da eine Wahl treffen?«, fragte sie ihn. Sie ließ die Finger über die Chosŏnots gleiten. »Den da habe ich in Mutterloses Vaterland getragen«, sagte sie. »Aber da habe ich die Frau eines Politikers gespielt. Ich kann nicht als diese Frau hier fortgehen, nicht auf ewig sie sein.« Eingehend betrachtete Sun Moon einen schlichten Chosŏnot mit weißem Jeogori und einem dezent geblümten Chima . »Und das hier ist Eine wahre Tochter des Vaterlands . Ich kann doch nicht wie ein Bauernmädchen gekleidet in Amerika ankommen.« Sie sah die Kleider durch – Sturz der Unterdrücker , Nieder mit den Tyrannen , Haltet die Fahne hoch!
»Alle deine Kleider stammen aus Filmen?«
Sie nickte. »Genau genommen gehören sie der Kleiderkammer. Aber wenn ich darin spiele, werden sie zu einem Teil von mir.«
»Du besitzt keine eigenen?«, fragte er.
»Ich brauche keine eigenen«, erklärte sie. »Ich habe die hier.«
»Was ist mit den Kleidern, die du getragen hast, bevor du Filme gemacht hast?«
Sie starrte ihn kurz an.
»Oh, ich kann mich nicht entscheiden«, sagte sie und schloss die Augen. »Ich überlege es mir später.«
»Nein«, widersprach er. »Nimm den.«
Sie holte den silbernen Chosŏnot heraus, den er ausgewählt hatte, hielt ihn vor sich.
» Ruhm und Glorie «, sagte sie. »Möchtest du, dass ich als Opernsängerin gehe?«
»Es ist eine Liebesgeschichte«, antwortete er.
»Und eine Tragödie.«
»Und eine Tragödie«, bestätigte er. »Würde der Geliebte Führer dich nicht liebend gern als Opernstar sehen? Wäre das nicht eine Verneigung vor seiner zweiten Leidenschaft?«
Sun Moon zog die Nase kraus. »Er hatte mir eine Opernsängerin besorgt, die mir helfen sollte, mich auf diese Rolle vorzubereiten, aber sie war unmöglich.«
»Was ist mit ihr passiert?«
Sun Moon zuckte mit den Schultern. »Sie ist verschwunden.«
»Wohin verschwunden?«
»Dahin, wo alle hingehen, vermute ich. Eines Tages war sie einfach nicht mehr da.«
Er berührte den Stoff. »Dann ist das genau das richtige Kleid für dich.«
*
Im letzten Tageslicht ernteten sie den Garten komplett ab; das Gemüse wollten sie roh essen. Die Blüten gossen sie zu Tee auf, die Gurken schnitten sie in Scheiben und legten sie mit fein geschnittenem Rotkohl in Essig und Zuckerwasser ein. Die gigantische Melone brachen sie auf einem Stein auf, sodass sich das Fruchtfleisch entlang der Kernchen trennte. Sun Moon zündete eine Kerze an. Bei Tisch machten Bohnen den Anfang – sie palten sie aus und wälzten sie in grobem Salz. Dann wartete der Junge mit einer Delikatesse auf: Vier Singvögel, die er in der Schlinge gefangen, gesäubert und mit rotem Pfeffer an der Sonne gedörrt hatte.
Der Junge fing an, eine Geschichte von einem Arbeiter zu erzählen, der einen Edelstein findet. Er hatte sie über den Lautsprecher gehört. Anstatt dem Leiter seiner Abteilung über den Fund Bescheid zu geben, verschluckt der Arbeiter den Stein, weil er hofft, ihn für sich behalten zu können.
»Die Geschichte kennt doch jeder«, meinte seine Schwester. »Am Ende war es eine Glasscherbe.«
»Bitte«, bat Sun Moon. »Erzählt eine Geschichte, die gut ausgeht.«
Das Mädchen sagte: »Was ist mit der, wo die Friedenstaube eine imperialistische Kugel abfängt und damit das Leben von ...«
Sun Moon unterbrach sie mit erhobener Hand.
Offenbar kannten die Kinder ausschließlich Geschichten, die sie über den Lautsprecher gehört hatten. Als Kommandant Ga jung war, hatten die Waisenkinder bei Tisch ihre Bäuche manchmal nur mit Geschichten füllen können. Ganz beiläufig sagte er: »Ich würde ja die Geschichte von dem kleinen Hund aus Pjöngjang erzählen, der ins All geflogen ist, aber die habt ihr mit Sicherheit schon gehört.«
Unsicher schaute das Mädchen erst zu ihrem Bruder, dannzu ihrer Mutter, und zuckte dann mit den Schultern. »Klar«, sagte sie, »wer kennt die nicht?«
Auch der Junge gab vor, die Geschichte zu kennen. »Ja, die ist uralt«, fügte er hinzu.
»Lasst mich sehen, ob ich mich noch dran erinnere«, sagte Kommandant Ga. »Die besten Wissenschaftler haben sich
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