Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
alsbald in einem Chosŏnot mit einem Chima aus pflaumenblauem Satin vor sie. Das Wirbelende des Instruments ruhte auf einem Kissen auf dem Dielenboden; die Basis lag quer über ihren untergeschlagenen Beinen. Sun Moon verneigte sich vor den Kindern, die ihrerseits den Kopf grüßend senkten.
Zunächst zupfte sie die hohen Saiten in raschen, hellen Tonfolgen. Schwer schlug sie den brausenden Raketenstart an, humorvoll erklang dazu ihr gereimter Gesang. Als der Hund die Erdanziehung hinter sich gelassen hatte und ins All vordrang, wurde ihr Spiel ganz leicht, und die Saiten schwangen nach, als vibrierten sie im leeren Raum. Das Kerzenlicht glänzte auf Sun Moons schwarzem Haar, und wenn sie bei komplizierteren Akkorden die Lippen schürzte, zog sich Ga das Herz in der Brust zusammen.
Von Neuem war er von ihrem Anblick ergriffen, überwältigt von dem Wissen, dass er sie am Morgen aufgeben musste. Im Straflager 33 gab man Stück für Stück alles auf – zunächst die Zukunft und alles, was man sich von ihr erhofft hatte. Als Nächstes war die Vergangenheit dran, und plötzlich schien es dem Gefangenen unvorstellbar, dass sein Kopf je auf einem Kissen geruht hatte, dass er jemals einen Löffel oder eine Toilette benutzt hatte, dass sein Mund Geschmäcker unterschieden hatte und seine Augen andere Farben wahrgenommen hatten als Grau, Braun und das Schwarz von getrocknetem Blut. Bevor man sich selbst aufgab – Ga war schon fast so weit gewesen, wie Taubheit in kalten Gliedmaßen hatte es sich angefühlt –, gab man alle anderen auf, jeden, den man je gekannt hatte. Sie wurden erst zu Bildern, dann zu Eindrücken und verblassten schließlich zu Ahnungen, und dann waren sie ebenso geisterhaft wie eine Projektion an der Wand eines Lazaretts. Genauso erschien ihm auf einmal Sun Moon – nicht als eine energische, schöne Frau, die ein Musikinstrument von ihrer Trauer erzählen ließ, sondern als das Aufflackern einer Person, die er einst gekannt hatte, das Foto eines längst verschwundenen Menschen.
In die Hundegeschichte hatte sich mittlerweile ein Anflug von Einsamkeit geschlichen, von Melancholie. Er bemühte sich, wieder ruhig zu atmen. Außerhalb des Kerzenscheins existierte nichts, sagte er sich. Der warme Schein schloss den Jungen, das Mädchen, diese Frau und ihn selbst ein. Außerhalb gab es nichts: keinen Berg namens Taesong, kein Pjöngjang, keinen Geliebten Führer. Er versuchte, den Schmerz in seiner Brust auf seinen ganzen Körper zu verteilen, wie es ihn Kimsan einst gelehrt hatte: die Flamme nicht an der einen Stelle zu spüren, sondern überall, und er versuchte, sich das Fließen seines Blutes vorzustellen, das die Qual aus seinem Herzen über sein ganzes Ich verteilte.
Und dann schloss er die Augen und stellte sich die Sun Moon vor, die immer in ihm war – eine ruhige Präsenz mit ausgebreiteten Armen, jederzeit bereit, ihn zu retten. Sie verließ ihn nicht, sie ging nirgendwo hin. Und da ließ der stechende Schmerz in seiner Brust nach, und ihm wurde klar, dass die Sun Moon in seinem Innern jener Rückzugsort war, der es ihm ermöglichen würde, den Verlust der Sun Moon, die vor ihm saß, zu überleben. Er begann, sich wieder an dem Lied zu erfreuen, auch wenn es zunehmend trauriger wurde. Den sanft leuchtenden Mond des Hündchens hatte eine unbekannte Rakete auf ungewisser Bahn abgelöst. Was als Lied der Kinder begonnen hatte, war nun zu Sun Moons Lied geworden, und als die Akkorde sich in einzelne, einsame Töne auflösten, erkannte er, dass es nun sein Lied war. Schließlich beendete Sun Moon ihr Spiel und neigte sich langsam nach vorn, bis ihre Stirn auf dem edlen Holz des Instruments ruhte, das sie nie wieder zum Klingen bringen würde.
»Kommt, Kinder«, sagte Ga. »Zeit, ins Bett zu gehen.«
Er brachte die beiden ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihnen.
Dann kümmerte er sich um Sun Moon und geleitete sie auf den Balkon an die frische Luft.
Die Lichter der Stadt unten strahlten länger als sonst.
Sie lehnte sich gegen die Brüstung, wandte ihm den Rücken zu. In der Stille konnten sie durch die Wand die Kinder hören, die Raketengeräusche nachahmten und dem Hund seine Startinstruktionen gaben.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ich brauche nur eine Zigarette«, sagte sie.
»Du brauchst es nicht durchzuziehen. Wenn du einen Rückzieher machst, wird niemand je davon erfahren.«
»Zündest du sie mir bitte an?«
Hinter seiner schützend vorgehaltenen Hand brachte er die
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