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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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zusammengesetzt und eine gigantische Rakete gebaut. Auf den Rumpf malten sie den roten Stern auf weißem Kreis der Demokratischen Volksrepublik Korea. Dann wurde sie mit Raketentreibstoff vollgetankt und zur Abschussrampe geschoben. Die Rakete sollte weit nach oben fliegen. Wenn das funktionierte, wollten sie versuchen, die nächste so zu bauen, dass sie auch wieder herunterkam. Doch kein Wissenschaftler hatte den Mut, als Pilot einzusteigen, auch wenn er dann zum Märtyrer erklärt werden würde.«
    An dieser Stelle hörte Ga auf zu erzählen. Er nippte an seinem Tee und blickte die Kinder an, die nicht verstanden, was diese Geschichte verherrlichen sollte.
    Zögernd sagte das Mädchen: »Und da haben sie beschlossen, den Hund zu schicken.«
    Ga lächelte. »Genau«, sagte er. »Ich dachte mir gleich, dass ihr die Geschichte kennt. Wo haben sie diesen Hund doch gleich gefunden?«
    Wieder herrschte Stille. »Im Zoo«, antwortete der Junge schließlich.
    »Aber natürlich«, sagte Ga. »Wie konnte ich das vergessen? Und wie sah der Hund aus?«
    »Er war grau«, sagte das Mädchen.
    »Und braun«, sagte der Junge.
    »Mit weißen Pfoten«, sagte das Mädchen. »Er hatte einen langen dünnen Schwanz. Sie haben ihn ausgesucht, weil er mager war und gut in die Rakete passte.«
    »Matschige Tomaten«, sagte der Junge. »Was anderes hat ihm der gemeine Zoowärter nicht zu fressen gegeben.«
    Sun Moon freute sich darüber, wie ihre Kinder die Geschichte weitersponnen. »Nachts gab sich der Hund der Mondbetrachtung hin«, steuerte sie bei.
    »Der Mond war sein einziger Freund«, sagte das Mädchen.
    »Der Hund hat ihn immer wieder gerufen«, sagte der Junge, »aber er bekam nie eine Antwort.«
    »Ja, das ist zwar eine alte Geschichte, aber sie ist gut«, sagte Kommandant Ga lächelnd. »Der Hund erklärte sich also einverstanden, mit der Rakete ins All zu fliegen ...«
    »... um seinem Freund, dem Mond, näher zu sein«, fuhr das Mädchen fort.
    »Ja, um seinem Freund, dem Mond, näher zu sein«, bestätigte Ga. »Aber haben sie dem Hund gesagt, dass er niemals zurückkehren würde?«
    Herbe Enttäuschung machte sich auf dem Gesicht des Jungen breit. »Sie haben ihm überhaupt nichts gesagt«, erklärte er.
    Ga nickte über diese schreckliche Ungerechtigkeit. »Wenn ich mich recht entsinne, haben die Wissenschaftler dem Hund erlaubt, etwas mitzunehmen.«
    »Einen Stock!«, sagte der Junge.
    »Nein«, sagte das Mädchen, »seinen Fressnapf!«
    Und schon verfielen die beiden in einen Wettstreit, wer von beiden als erster herausfand, welchen Gegenstand der Hund mit ins All nehmen würde. Ga aber nickte bei jedem neuen Vorschlag zustimmend.
    »Der Hund hat ein Eichhörnchen mitgenommen«, sagte der Junge, »damit er nicht so einsam ist.«
    »Er hat sich für einen Garten entschieden«, setzte das Mädchen dagegen, »damit er nicht hungern muss.«
    Immer weiter spannen sie die Geschichte – einen Ball, ein Seil, einen Fallschirm, eine Flöte, die er mit seinen Pfoten spielen konnte.
    Mit erhobener Hand gebot Ga schließlich Einhalt, und am Tisch wurde es ruhig. »Heimlich, still und leise hat der Hund all diese Dinge mitgebracht, und ihr Gewicht hat den Kurs der Rakete geändert, als sie abgeschossen wurde, sodass sie eine andere Bahn einschlug, nämlich ...«
    Ga gestikulierte zum Himmel, und die Kinder schauten nach oben, als würde die Lösung des Rätsels gleich an der Decke erscheinen.
    »... zum Mond!«, sagte das Mädchen.
    Nun hörten Ga und Sun Moon zu, wie die Kinder den Rest der Geschichte allein weiter ausmalten: Wie der Hund auf dem Mond einen anderen Hund entdeckte – nämlich den, der jede Nacht die Erde anheulte, wie auf dem Mond ein Junge war und ein Mädchen, und wie die Hunde und die Kinder selbst begannen, eine Rakete zu bauen, und Ga beobachtete, wie der Kerzenschein die Kindergesichter zum Leuchten brachte, wie Sun Moon beglückt die Augen niederschlug, wie die Kinder die Aufmerksamkeit ihrer Mutter genossen und jeder versuchte, sie auf sich zu ziehen – und wie die Familie zusammen die Melone verspeiste, bis nur noch die Schale übrig war, die Kerne in einem Holzschüsselchen sammelten und sich miteinander freuten, als der süße, rosige Saft an ihren Fingern und Handgelenken herabtroff.
    Der Junge und das Mädchen flehten ihre Mutter an, sich ein Lied auszudenken – die Ballade vom Hund, der auf den Mond flog –, und da es für Sun Moon undenkbar war, ihre Gayageum im Hausmantel zu spielen, trat sie

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