Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
humpelte Kommandant Park vorbei, den Arm in einer Schlinge. Er hielt etwas in der Hand – was es war, konnte ich nicht erkennen, ich sah nur, dass es rosa, feucht und wund aussah. Mit seinem narbenzerfurchtenGesicht ist Kommandant Park eine wirklich furchteinflößende Erscheinung, das kann ich Ihnen sagen. Die Art, wie er einen mit seinen toten Augen in ihren düsteren Höhlen ansieht – der könnte glatt einem Gruselfilm über grausame Diktatoren aus Afrika oder so entsprungen sein. Er wickelte das Ding in Zeitungspapier und schickte es in einer Rohrpostkapsel in den Bunker tief unter uns. Dann wischte er sich die Hand an der Hose ab und ging.
Sarge schnippte vor meiner Nase mit den Fingern. »Genosse!«
»Entschuldigung«, sagte ich. »Ich habe Kommandant Park noch nie hier oben gesehen.«
»Er ist der Kommandant«, erwiderte Sarge.
»Er ist der Kommandant«, wiederholte ich.
»Hör zu«, sagte Sarge. »Ich weiß, dass du bei der Ernte helfen musstest und dass deine Wohnung im einundzwanzigsten Stock liegt. Ich weiß, dass du kein Anrecht auf einen Sitzplatz in der U-Bahn hast.« Er griff in seine Tasche. »Deswegen hab ich eine kleine Überraschung für dich. Etwas, womit sich’s gleich viel leichter leben lässt.«
Er redete garantiert von dem brandneuen Beruhigungsmittel, von dem ich hatte munkeln hören. Stattdessen zog er eine glänzende Pubjok-Marke aus der Tasche. »Ein Ein-Mann-Team gibt es nicht«, sagte er und hielt sie mir hin. »Du bist doch ein schlaues Kerlchen. So was können wir gebrauchen. Q-Ki hat eine Menge bei dir gelernt. Na komm, sei nicht dumm. Dann kannst du weiter mit ihr zusammenarbeiten.«
»Ga ist immer noch mein Fall«, erwiderte ich. »Den muss ich zu Ende bringen.«
»Unbedingt, das ehrt dich«, sagte Sarge. »Anders sollte es auch gar nicht sein. Bring deine Arbeit zu Ende, und dann schließt du dich unserer Mannschaft an.«
Als ich die Marke entgegennahm, sagte er: »Ich sag den Jungs, sie sollen deine Haarschneide-Party vorbereiten.«
Ich drehte die Marke um. Es stand kein Name darauf, nur eine Nummer.
Sarge legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm, guck dir das hier an«, sagte er.
Er reichte mir den Metallgegenstand von der Werkbank. Er war unglaublich schwer – ich konnte ihn kaum halten. Es war ein schmiedeeiserner Schriftzug mit einer langen Stange zum Festhalten.
»Was für eine Sprache ist das?«, fragte ich. »Englisch?«
Sarge nickte. »Aber selbst wenn du Englisch könntest, könntest du das nicht lesen. Das ist Spiegelschrift.« Er nahm mir das Ding ab und zeigte auf die Buchstaben. »Das ist ein sogenanntes Brandeisen. Ein Unikat, ganz aus massivem Metall. Damit markiert man seinen Besitz, und auf dem liest man die Schrift dann richtig herum. Ich weiß nicht mehr, ob da nun Eigentum der Demokratischen Volksrepublik Korea oder Eigentum des Geliebten Führers Kim Jong Il steht.«
Sarge musterte mich, ob ich eine blöde Bemerkung machen würde, nach dem Motto: Wo ist da der Unterschied?
Als ich nichts sagte, lächelte er und nickte anerkennend.
Ich sah nach, ob das Gerät einen Stecker hatte, sah aber nichts. »Und wie funktioniert das Ding?«
»Ganz einfach«, erklärte er. »Das ist primitive amerikanische Technologie. Man hält es in die Glut, bis es rot glüht. Dann brennt man die Botschaft ein.«
»Aber in was denn?«, wollte ich wissen.
»In Kommandant Ga«, antwortete er. »Sie wird ihm bei Sonnenaufgang im Fußballstadion eingebrannt.«
Diese Unmenschen , dachte ich, versuchte aber, keine Regung zu zeigen.
»War Kommandant Park deswegen hier?«
»Nein, der Geliebte Führer hat Kommandant Park hochgeschickt, um etwas für ihn persönlich zu erledigen«, antwortete Sarge. »Wie es scheint, vermisst der Geliebte Führer Sun Moon und wollte ein letztes Bild von ihr haben, damit er sie nicht vergisst.«
Ich starrte Sarge an und versuchte zu begreifen, was er damit sagen wollte, doch als ein verschlagenes Grinsen über sein Gesicht huschte, drehte ich mich um und rannte, rannte so schnell ich konnte zu Kommandant Ga. Ich fand ihn in einer schalldichten Stahlzelle.
»Morgen früh«, keuchte Ga, als ich zu ihm in den Raum trat. Ohne Hemd lag er auf einem Verhörtisch, die Hände festgeschnallt. »Sie bringen mich ins Fußballstadion und drücken mir vor aller Augen ihr Brandeisen auf.« Aber ich konnte gar nicht zuhören, ich musste immer nur auf seine Brust starren. Langsam ging ich näher. Ich konnte den Blick nicht von dem rohen, roten
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