Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
und überall im Wohnblock ertönte das Quietschen, als die Glaslamellen aufgekurbelt wurden, weil die Bewohner sehen wollten, wer sich da unten so danebenbenahm.
Jun Do richtete sich auf, schob einen Stuhl als Gehhilfe vor sich her und schleppte sich ans Fenster. Am Himmel stand eine schmale Mondsichel, und weit unten im Hof machte er mehrere Leute an ihrem lauten Gelächter aus – zu sehen waren nur schwarze Schatten. Aber er konnte sich den Glanz ihres Haars, den Schimmer ihres Nackens und ihrer Schultern vorstellen.
Ganz Kinjye war dunkel – das Backwarenkollektiv, der Magistrat, die Schule, die Lebensmittelausgabestelle. Selbst der Generator der Karaokebar schwieg, das blaue Neonlicht war erloschen. Wind pfiff durch die alte Konservenfabrik, aus den Dampfdruckkammern der neuen stiegen Hitzewellen auf. Schwarz zeichnete sich der Umriss der ehemaligen Fabrikdirektorenvilla ab. Im Hafen leuchtete ein einziges Licht – der Kapitän der Junma war noch spät auf und las. Dahinterdie Dunkelheit der See. Jun Do hörte ein Schnüffeln und sah hoch zum Dachüberstand: zwei Pfoten und ein Welpengesicht, das neugierig auf ihn herunterblickte.
Als sie zur Tür hereinschwankte, hatte er eine Kerze angezündet und saß, in sein Laken gewickelt, auf einem Stuhl. Sie hatte geweint.
»Arschlöcher«, sagte sie und steckte sich eine Zigarette an.
»Komm zurück«, rief eine Stimme von unten. »Wir haben doch nur Spaß gemacht.«
Sie ging ans Fenster und warf einen Fisch auf sie.
Sie drehte sich zu Jun Do um. »Was glotzt du so?« Aus einer Kommode zog sie Kleidungsstücke ihres Mannes. »Zieh dir lieber mal ein Hemd an!« Sie warf ihm ein weißes Unterhemd ins Gesicht.
Das Hemd war zu klein und roch nach dem Schweiß des Zweiten Maats. Die Arme durchzustecken war die Hölle. »Vielleicht ist die Karaokebar ja nicht der richtige Ort für dich«, meinte er.
»Arschlöcher«, sagte sie, rauchte auf dem anderen Stuhl und starrte angestrengt an die Decke, als denke sie über etwas nach. »Den ganzen Abend haben sie auf meinen Mann getrunken, auf den Helden.« Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Die haben mir mindestens zehn Glas Pflaumenwein ausgegeben. Dann haben sie angefangen, traurige Lieder in der Karaokemaschine auszusuchen. Als ich ›Pochonbo‹ gesungen hatte, war ich völlig fertig. Und dann haben sie sich darum gestritten, wer mich trösten darf.«
»Ich verstehe nicht, warum du dich mit solchen Typen abgibst.«
»Ich brauche sie«, erwiderte sie. »Mein neuer Mann wird bald ausgewählt. Ich muss einen guten Eindruck auf die Leute machen. Sie sollen wissen, wie gut ich singen kann. Das ist meine große Chance.«
»Das sind doch nur Lokalfunktionäre. Die haben gar nichts zu melden.«
Sie hielt sich den schmerzenden Bauch. »Ich hab die Nase so voll von den ständigen Fischvergiftungen, ständig muss ich Chlortabletten schlucken. Hier, riech mal, wie ich stinke. Ist es nicht unglaublich, dass mein Vater mir so was angetan hat? Wie soll ich es nach Pjöngjang schaffen, wenn ich nach Fisch und Chlor stinke?«
»Ich weiß, dass es dir ungerecht vorkommt«, tröstete Jun Do sie, »aber dein Vater wusste bestimmt, was auf dem Spiel stand. Er hat ganz sicher das gewählt, was für dich am besten war.« Es kam ihm abscheulich vor, den Spruch zu wiederholen, mit dem er die anderen Waisenkinder so oft abgespeist hatte: Du weißt ja nicht, in was für einer schrecklichen Lage sie sich befanden. Deine Eltern hätten dich niemals ins Waisenhaus gesteckt, wenn sie eine andere Wahl gehabt hätten.
»Mehrmals im Jahr kamen Männer zu uns in den Ort, oben an der Küste. Alle Mädchen wurden in einer Reihe aufgestellt, und die hübschen« – sie legte den Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus – »sind einfach verschwunden. Mein Vater hatte Verbindungen, er hat immer Wind davon gekriegt, und meldete mich an diesen Tagen krank. Und dann hat er mich hierhergeschickt. Und wozu, kannst du mir das sagen? Wozu Sicherheit, wozu überleben, wenn man dann ein halbes Jahrhundert lang Fische ausnehmen muss?«
»Und was sind die anderen Mädchen jetzt?«, fragte Jun Do zurück. »Bardamen, Putzfrauen oder noch schlimmer ? Glaubst du etwa, es ist besser, so was fünfzig Jahre lang zu machen?«
»Wenn’s so läuft, sag’s mir ruhig. Sag mir, was aus ihnen geworden ist.«
»Ich weiß es ja auch nicht. Ich war noch nie in der Hauptstadt.«
»Na siehst du. Dann nenn sie auch nicht Huren«, sagte sie. »Das waren mal meine
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