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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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ansetzen, wussten die Ziegen auf der Landebahn seltsamerweise genau, wann sie das Feld zu räumen hatten. Doch als das Flugzeug aufsetzte, sah Dr. Song die wartenden Krähen, die Militärtransporter, und mit Panik in der Stimme drehte er sich zum Minister und zu Jun Do um.
    »Vergesst alles«, rief er ihnen zu. »Wir müssen unsere Geschichte komplett umwerfen.«
    »Was ist los?«, fragte Jun Do und sah den Minister an, in dessen Augen die blanke Angst geschrieben stand.
    »Still jetzt und zugehört«, sagte Dr. Song. »Die Amerikaner hatten nie die Absicht, uns das zurückzugeben, was sie von uns gestohlen haben. Ist das klar? Das ist die neue Geschichte.«
    In der Bordküche steckten sie die Köpfe zusammen; sie mussten sich festhalten, als der Pilot mit Macht in die Eisen stieg.
    »Die neue Geschichte geht so«, beschwor sie Dr. Song. »Die Amerikaner hatten sich einen raffinierten Plan zurechtgelegt, mit dem sie uns nach Strich und Faden demütigen wollten. Sie zwangen uns, Gartenarbeit zu verrichten und dem Senator das Unkraut zu mähen, richtig?«
    »Haargenau«, sagte Jun Do. »Essen mussten wir unter freiem Himmel, mit den Fingern, umgeben von Hunden.«
    Der Minister sagte: »Zu unserer Begrüßung gab es keine Militärkapelle und keinen roten Teppich. Wir wurden in völlig veralteten Kraftfahrzeugen herumgefahren.«
    »In einem Laden wurden uns schöne Schuhe vorgeführt, aber dann durften wir sie nicht behalten«, fuhr Jun Do fort. »Zum Abendessen mussten wir Bauernhemden anziehen.«
    Der Minister empörte sich: »Ich musste mein Bett mit einem Hund teilen!«
    »Gut, gut«, sagte Dr. Song. Auf seinem Gesicht stand ein verzweifeltes Lächeln, aber seine Augen glitzerten angesichts der Herausforderung. »Das wird dem Geliebten Führer zusagen. Damit können wir vielleicht unsere Haut retten.«
    *
    Die Fahrzeuge auf dem Rollfeld waren Militärtransporter sowjetischer Bauart, drei Stück. Hergestellt wurden die Krähen in Ch'ŏngjin in der Sungli-58-Fabrik, Jun Do hatte schon Tausende davon gesehen. Mit ihnen wurden Soldaten und Ausrüstung transportiert, viele Waisen waren von ihnen abgeholt worden. In der Regenzeit war die Krähe das einzige Fahrzeug, das auf den ungeteerten Straßen überhaupt durchkam.
    Dr. Song würdigte die Krähen und ihre Fahrer, die auf den Trittbrettern zusammenstanden und rauchten, nicht eines Blickes. Er lächelte jovial und begrüßte die beiden Männer, die zur Einsatzbesprechung gekommen waren. Doch der Minister konnte einfach nicht aufhören, mit verbissenem Blick die riesigen Lastwagenreifen und trommelförmigen Treibstofftanks zu mustern. Plötzlich wurde Jun Do klar, dass nur eine Krähe in der Lage war, die schlechten Pisten von Pjöngjang hinauf zu den Internierungslagern in den Bergen zu bewältigen.
    Jun Do erblickte das gigantische Porträt des Großen Führers und Ewigen Präsidenten Kim Il Sung auf dem Flughafengebäude. Doch die beiden Beamten führten sie in eine andere Richtung, vorbei an einem Trupp von Frauen in Overalls, die vor einem Berg von Schaufeln ihre Morgengymnastikmachten, und weiter an einem in vier Teile zerschnittenen Flugzeugrumpf vorbei, der regelrecht ausgeweidet wurde. Auf umgedrehten Eimern hockte ein Grüppchen alter Männer und zog von einem Berg alter Kupferkabel die Ummantelung ab.
    Sie kamen an einen sehr geräumigen, leeren Hangar. Dreckwasser stand in den Löchern im Betonboden. Mehrere Arbeitsbuchten waren mit Hebebühnen, Werkzeug und Werkbänken ausgestattet. Dr. Song, der Minister und Jun Do wurden so darauf verteilt, dass sie einander nicht sehen konnten.
    Jun Do saß mit den beiden Beamten an einem Tisch. Sie durchwühlten seine Sachen.
    »Erzählen Sie uns von Ihrer Reise«, sagte der eine. »Und lassen Sie nichts aus.«
    Auf dem Tisch stand eine Schreibmaschine unter einer Haube, die sie aber offensichtlich nicht zu benutzen gedachten.
    Anfangs erwähnte Jun Do nur das, was sie vorher abgesprochen hatten – die Demütigungen durch die Hunde, die labberigen Pappteller, das Essen unter der heißen Sonne. Während er sprach, machten die Männer seinen Bourbon auf, tranken und befanden ihn für gut. Vor seinen Augen teilten sie seine Zigaretten zwischen sich auf. Am meisten schien sie die kleine Taschenlampe zu begeistern, und sie unterbrachen ihn, um nachzusehen, ob er auch wirklich keine zweite irgendwo versteckt hatte. Sie bissen von seinem Trockenfleisch ab und probierten seine Kalbslederhandschuhe an.
    »Noch mal von vorn«,

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