Das geraubte Paradies
drehte, flog ihr auch schon der nächste Kiesel entgegen. Sie klaubte ihn aus der Luft. »He, ihr …«
»Fallen lassen!«, befahl Ferrer. »Und fang.«
Sie drehte sich ihm erneut zu, ließ die beiden Steine in ihrer Hand fallen und griff gerade noch rechtzeitig zu, um den hoch geworfenen Kiesel aufzufangen, bevor er ihr gegen den Kopf knallte.
»Und fang«, rief Emm.
»Und fang«, fügte Ferrer hinzu.
In immer kürzeren Abständen warfen die beiden Widerständler Steine auf Carya. Dabei begannen sie, sich in gegensätzliche Richtungen zu bewegen, was Carya zwang, sich immer wieder zum einen oder zum anderen umzudrehen, um die Kiesel aufzufangen. Es dauerte etwa ein halbes Dutzend Steine, bis sie endlich begriff, was das Ganze zu bedeuten hatte. Die beiden testeten ihre Reaktionsschnelle und ihre Fähigkeit, selbst im Halbdunkel auf rasch nahende Bedrohungen aus unterschiedlichen Richtungen zu reagieren.
Zu Caryas eigener Verblüffung gelang es ihr mühelos. Sie musste kaum darüber nachdenken, die Steine zu fangen. Ihre Hände schienen genau zu wissen, wo sie sein mussten, um die Geschosse aus der Luft zu holen.
Ein Rausch der Begeisterung überkam Carya, als sie spürte, wie schnell und zielsicher sie auf einmal handeln konnte. Emm und Ferrer bückten sich und hoben ganze Armladungen Kieselsteine vom Uferboden auf, die sie ihr in rasanter Abfolge entgegenschleuderten. Carya fing sie alle. Mit traumwandlerischer Sicherheit wirbelte sie im Kreis, ging in die Hocke, sprang und streckte die Arme. Kein Stein traf sie oder flog an ihr vorbei.
Schließlich führte Emm einen niedrigen Wurf durch, Ferrer zugleich einen sehr weit rechts außen. Carya ging in die Hocke, fing den ersten Stein auf, warf sich dann in einer kraftvollen Flugrolle nach vorne, erwischte den zweiten, kam auf dem Boden auf, rollte sich elegant ab – und landete auf einem Knie im Flussbett, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Steine in beiden zur Faust geballten Händen festhaltend. Mit klopfendem Herzen und von einem Gefühl nahe der Ekstase erfüllt, blieb sie dort hocken, während das kühle Nass ihre Beine umspülte und ihren Overall durchtränkte. An ihrer Wade pochte ein dumpfer Schmerz, aber Carya ignorierte ihn. Ihre Wunde war praktisch verheilt. Sie würde ihr keine Probleme mehr bereiten, das wusste sie. Triumphierend hob sie den Blick.
»Wahnsinn«, entfuhr es Ferrer, als er näher kam und am Rand des Wassers ebenfalls in die Hocke ging. »Das habe ich echt noch nicht erlebt.«
»Verstehst du jetzt, was wir meinten, als wir sagten, wir könnten dir Zugriff auf deine Gaben ermöglichen?«, fügte Emm hinzu, die zu ihrer Linken auftauchte. Sie streckte die Hand aus, und Carya ließ die beiden Steine ins Wasser plumpsen, bevor sie die dargebotene Rechte ergriff und sich erhob. Sie hätte die Hilfe nicht nötig gehabt, aber sie wollte nicht unhöflich wirken.
»Ja«, erwiderte sie, während sie an den Hosenbeinen ihres Overalls zupfte, die ihr nass am Körper klebten. »So langsam verstehe ich.«
»Und das war nur ein Test deiner Möglichkeiten. Du kannst noch bedeutend mehr, wenn es nötig sein sollte.«
Jetzt, wo Carya darauf achtete, fiel ihr auf, wie viel deutlicher sie ihre Umwelt auf einmal wahrnahm. Sie sah das grasbewachsene Ufer, hörte das Gurgeln des Flusses, spürte die kaum wahrnehmbare Brise, die durch das Tal strich, mit einer Klarheit, die weit über das hinausging, wozu ihre Sinne noch vor wenigen Stunden imstande gewesen waren – zumindest, solange sie nicht von der Attentäterin übernommen worden war.
Diese zweite, irgendwie fremde Präsenz schien hingegen verschwunden zu sein. Carya horchte in sich hinein, aber da lauerte nichts mehr am Rand ihres Bewusstseins, bereit, zuzuschlagen und die Kontrolle zu übernehmen, wann immer Carya in eine Stresssituation geriet. Irgendwie war es Ziyi und ihrem Assistenten gelungen, die Doppelidentität in ihrem Inneren aufzulösen und Carya mit der Attentäterin zu verschmelzen, ohne dass Carya dabei ihre Persönlichkeit einbüßte. Zumindest hoffte sie das. Ganz sicher war sie sich nicht.
Ich bin die, die ich immer war,
redete sie sich ein.
Ich fühle mich wie früher, also warum sollte ich anders sein?
Ferrer berührte Carya an der Schulter. »Los, fahren wir weiter.«
Sie gingen zum Auto zurück, wo Carya sich ihren hellblauen Overall rasch wieder anzog und sich des nassen – und nebenbei vollgekotzten – Kleidungsstücks aus den Beständen des Brutzentrums
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