Das Geschenk der Wölfe
sie ist nicht dumm. Aber sie weiß von dieser ganzen Sache nicht mehr als du.»
«Immerhin sind wir auf dem gleichen Wissensstand. Und sie weiß, dass ich sie liebe. Hätte sie Marrok nicht mit der Axt erschlagen, wäre ich womöglich nicht als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen.»
Jim wusste nicht, was er sagen sollte.
«Was willst du mir also sagen?», fragte Reuben. «Was soll ich deiner Meinung nach tun?»
«Ich weiß es nicht. Lass mich nachdenken. Wir müssen jemanden finden, der absolut vertrauenswürdig ist. Er müsste sich dieser Sache annehmen, alles genauestens analysieren … Vielleicht könnte er sogar einen Weg finden, alles rückgängig zu …»
«Alles rückgängig machen? Jim, dieser Marrok hat sich aufgelöst! Asche zu Asche. Er ist verschwunden. Glaubst du wirklich, dass etwas so Drastisches rückgängig gemacht werden kann?»
«Du weißt nicht, wie lange diese Kreatur schon ihre besonderen Fähigkeiten hatte.»
«Ich muss dir noch etwas sagen, Jim. Hätte Marrok ein paar Sekunden länger gelebt, hätte er sich die Axt aus dem Kopf ziehen können, und sein Schädel und sogar sein Gehirn wären wahrscheinlich geheilt. Dazu kam es aber nicht, weil ich ihn geköpft habe. Das scheint das einzig Wirksame zu sein. Erinnerst du dich an meine Schusswunde, die in null Komma nichts geheilt war?»
«Ja, daran erinnere ich mich. Allerdings habe ich nicht geglaubt, dass jemand auf dich geschossen hat, das muss ich ehrlich zugeben.» Er schüttelte den Kopf. «Aber inzwischen hat Celeste mir erzählt, dass die Kugel in dem Haus in Buena Vista gefunden wurde, und die ballistische Untersuchung hat ergeben, dass sie nicht direkt in die Wand geschossen wurde, sondern vorher jemanden getroffen hatte. Andererseits fand sich kein Gewebe an dem Projektil, nicht das geringste bisschen.»
«Und was bedeutet das deiner Meinung nach in Bezug auf mich?»
«Oh, bitte! Keine Unsterblichkeitsphantasien, Kleiner!» Jim kniff Reuben in den Arm. «Verschone mich!»
«Aber was, wenn wir extrem langlebig sind? Dieser Marrok hat mir den Eindruck vermittelt, dass er schon unvorstellbar lange gelebt hat.»
«Woraus schließt du das?»
«Er sagte etwas davon, dass er sich an die Zeit erinnerte, als alles noch neu für ihn war und er gar nicht glauben konnte, was mit ihm passiert war. Er sagte, es sei das Einzige, woran er sich aus dieser Zeit erinnern könne. Ich gebe zu, dass es reine Interpretation ist, nur ein Bauchgefühl, aber …»
«Es könnte aber auch ganz anders sein», sagte Jim. «Tatsache ist: Du weißt es nicht. Was die ballistische Untersuchung betrifft, gebe ich dir allerdings recht. Es gibt keine andere Erklärung dafür, dass sie an dem Geschoss keine Spuren finden konnten, wie Celeste sagt. Und auch Mom sagt, dass die medizinischen Labors keine Erklärung dafür haben, dass sich die Testsubstanzen einfach auflösen.»
«Ich wusste es», sagte Reuben. «Mom ist dahintergekommen, dass mit mir etwas nicht stimmt.»
«Gesagt hat sie das aber nicht. Allerdings glaube ich auch, dass sie etwas weiß. Und dass sie Angst hat. Sie kann an nichts anderes mehr denken. Dieser russische Arzt soll morgen hier ankommen. Er bringt Mom zu dieser kleinen Klinik in Sausalito, um …»
«Wo aber auch keine anderen Ergebnisse erzielt werden können», unterbrach Reuben seinen Bruder.
«Ich weiß. Aber mir gefällt das alles nicht. Du solltest Mom aufklären. Was jedoch diesen Arzt aus Paris betrifft, bin ich skeptisch. Was will der Mann? Dad ist auch misstrauisch. Er hat Mom vor ihm gewarnt und sich mit ihr gestritten, weil er findet, dass sie nichts unternehmen soll, was du nicht willst.»
«Wieso hat er sie gewarnt?»
«Offenbar können weder Mom noch Dad diese Klinik im Internet finden, und kein anderer Arzt scheint je von ihr gehört zu haben.»
«Und was hält Mom davon?»
«Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass du die Sache für sie noch schlimmer machst, wenn du ihr die ganze Wahrheit erzählst. Das solltest du allerdings unter vier Augen tun, ohne diesen Pariser Arzt, wer immer der Kerl sein mag. Du musst verhindern, dass du jemandem in die Hände fällst, der sein eigenes Süppchen kocht und aus welchem Interesse auch immer Informationen über dich sammeln will.»
«Jemandem in die Hände fallen …», wiederholte Reuben nachdenklich.
Jim nickte. «Die Sache gefällt mir nicht. Und Mom sicher auch nicht. Aber sie ist so verzweifelt, dass sie sich auf alles einlässt, was ihr Klarheit bringen
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