Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
Abendessen, danach musste er sich wieder auf den Heimweg machen. Um Zeit zu sparen, hatte er sein Priestergewand anbehalten.
    Reuben war so froh, ihn zu sehen, dass er ihn umarmte, als hätte er ihn ewig nicht gesehen. Die Trennung von seiner Familie wurde ihm schmerzhaft bewusst, und es war ein beklemmendes Gefühl.
    Nach einer flüchtigen Führung durchs Haus nahmen sie Kaffee mit ins Frühstückszimmer des Ostflügels, das direkt an die Küche anschloss, und setzten sich zum Gespräch zusammen.
    Laura akzeptierte, dass es um eine «Beichte» ging, wie Reuben gesagt hatte, und war mit ihrem Laptop nach oben gegangen, um E-Mails zu beantworten. Sie hatte das Zimmer, das im Westflügel gleich hinter dem großen Schlafzimmer lag, zu ihrem Arbeitszimmer erklärt, und bei nächster Gelegenheit wollten sie es entsprechend einrichten. Nur ihre Bücher und Unterlagen befanden sich jetzt dort. Die unfertige Ausstattung wurde von dem Ausblick mehr als wettgemacht, der sowohl über das Meer als auch über einen Teil der Klippen ging.
    Jim machte sich bereit, Reuben die Beichte abzunehmen, und holte seine violette Stola aus seiner Tasche, um sie sich über die Schultern zu legen.
    «Ist es ein Sakrileg, dir das abzuverlangen?», fragte Reuben.
    Jim antwortete nicht sofort. Dann sagte er: «Ich gehe davon aus, dass du mit den besten Absichten vor Gott trittst.»
    Reuben nickte und sagte: «Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt und tue mich schwer mit der nötigen Reue.» Während er sprach, sah er zum östlichen Fenster hinaus, in den ebenso üppigen wie luftigen Hain der Lebenseichen, die sich bis zu den Redwoodbäumen erstreckten. Es waren mächtige, knorrige Bäume. Der weiche Boden, auf dem sie standen, war über und über mit grünen, gelben und braunen Blättern bedeckt. An vielen Stämmen kletterte Efeu bis in die verzweigten Äste empor.
    Schon vor Sonnenuntergang hatte der Regen aufgehört. Da es noch nicht richtig dunkel war, lugte zwischen den Baumwipfeln blauer Himmel hervor. Die tief im Westen stehende Sonne tauchte den Wald in warmes Licht. Einen Moment lang zog der Anblick Reuben so sehr in seinen Bann, dass er ganz gedankenverloren dasaß.
    Dann wandte er sich seinem Bruder zu, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Gesicht zwischen die Hände und erzählte Jim alles, absolut alles, was geschehen war. Er sprach von den merkwürdigen Zusammenhängen, in denen die Namen Nideck und Sperver aufgetaucht waren, und schilderte sein eigenes Handeln in schonungsloser Offenheit.
    «Ich kann leider nicht sagen, dass ich diese Fähigkeit wieder verlieren möchte», gestand er. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie großartig es ist, in Wolfsgestalt auf allen vieren durch den Wald zu laufen, Kilometer um Kilometer, ohne zu ermüden, und sich dann in die Baumwipfel zu erheben, dreißig, vierzig Meter hoch. Jedes Bedürfnis, das diese Kreatur verspürt, kann sie mühelos befriedigen.»
    Jim hatte feuchte Augen und sah unendlich traurig und besorgt aus. Doch er nickte nur, und wenn Reuben eine Pause machte, wartete er geduldig, bis er weitersprach.
    «Alles andere verblasst gegen dieses Erlebnis», sagte Reuben. «Natürlich vermisse ich dich, Mom und Phil ganz fürchterlich, aber auch dieses Gefühl verblasst gegen das andere.»
    Er berichtete, wie er die Berglöwin mit Wollust verschlungen hatte, und schilderte die Gefühle, mit denen er oben im Blätterdach des Waldes gehockt und die Jungen der Berglöwin unter ihm beobachtet und gewünscht hatte, er könnte Laura zu diesem zauberhaften Ort führen. Doch wie sollte er Jim begreiflich machen, wie sehr diese neue Existenzform ihn faszinierte? Wie konnte er Jim die offensichtliche Verzweiflung nehmen? Konnte er denn nicht verstehen, wie wunderbar das alles war?
    «Du kannst mich nicht verstehen, nicht wahr?», sagte er.
    «Es ist nicht wichtig, ob ich es verstehe», sagte Jim. «Lass uns lieber noch einmal auf diesen Marrok zurückkommen. Was genau hat er dir erklärt?»
    «Aber Jim, du kannst mir nicht verzeihen, wenn du es nicht verstehst», protestierte Reuben.
    «Nicht ich muss dir verzeihen.»
    Reuben sah wieder aus dem Fenster, auf die Schottereinfahrt und den Eichenwald, der so nah war, so lebendig mit seinem Spiel von Licht und Schatten.
    «Lass mich zusammenfassen, was du erfahren hast», sagte Jim. «Es gibt noch mehr von diesen Kreaturen, und dieser Felix Nideck ist vermutlich einer von ihnen. Auch dieser Margon Sperver wäre dann ein sogenanntes

Weitere Kostenlose Bücher