Das Geschenk der Wölfe
Ihnen ausrichten, dass er in dringenden Geschäften abberufen wurde, die keinen Aufschub duldeten. Aber er will so bald wie möglich zurückkehren.»
Nein, er habe keine Telefonnummer oder Adresse hinterlassen.
Reuben ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Kurz darauf griff er wieder zum Telefon, rief Simon Oliver an und hinterließ ihm die Nachricht, er solle sich mit Hammermill in Verbindung setzen und eine Telefonnummer in Erfahrung bringen, unter der Felix im Notfall zu erreichen sei. Es sei dringend. Simon könne sich gar nicht vorstellen, wie dringend.
Mehr konnte er nicht tun, um seine Panik niederzukämpfen. Würde der Junge sterben? Würde das Chrisam ihn umbringen? Hatte der widerwärtige Marrok überhaupt die Wahrheit gesagt, als er behauptete, das Chrisam könne töten?
Er musste Felix ausfindig machen!
Wieder sah er den Jungen auf dem dreckigen Hinterhof zusammenbrechen, die ausgestreckten Hände, die Wunden.
Lieber Gott!
Er sah zu dem lächelnden Felix auf dem Foto auf.
Lieber Gott, bitte hilf mir! Lass den armen Jungen nicht sterben!
Es war unerträglich.
Laura beobachtete ihn und sah, dass etwas nicht stimmte, wartete aber ab, bis er darüber sprechen wollte.
Er nahm Laura in die Arme und streichelte über ihren dicken grauen Pullover und die warme graue Hose.
Ich will mich verwandeln. Jetzt. Will in die Nacht zurück.
Noch als er Laura festhielt, spürte er, wie ihm erneut ein Fell wuchs. Er ließ sie nur kurz los, um sich auszuziehen. Das Fell schützte ihn vor der Wärme des Zimmers, und was er jetzt roch, waren die Aromen des Walds, der bis an die Fenster reichte. In ekstatischen Wellen erfasste die Verwandlung seinen Körper, sodass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.
Er hob Laura hoch und trug sie zur Hintertür aus dem Haus. Die Verwandlung war jetzt abgeschlossen. Laura sicher an die linke Schulter gedrückt, eilte er durch den Wald. Vorgebeugt sprang er von einem kraftstrotzenden Bein aufs andere, ließ die Eichen hinter sich und erreichte die Redwoodbäume.
«Klammer dich an mir fest», flüsterte er Laura ins Ohr und half ihr, die Arme um seinen Hals und die Beine um seinen Bauch zu schlingen. «Wir gehen in die Baumwipfel. Hast du Lust?»
«Und wie!», rief sie.
Er stieg bis in die höchsten Äste, jenseits der Kletter- und Efeupflanzen, immer höher, bis die niedrigeren Bäume unter ihnen zurückblieben und das Meer zu sehen war, das endlose, glitzernde Meer unter den von einem gespenstisch weißen Mond erhellten Wolken. Schließlich fand er einige knorrige, ineinander verschlungene Zweige, die eine sichere Lagerstätte bildeten und sie tragen würden.
Reuben setzte sich und lehnte sich zurück. Mit der linken Hand hielt er sich an einem Ast fest, mit der rechten hielt er Laura. Sie lachte vor Lust und bedeckte seinen Körper mit Küssen, vor allem die Stellen, an denen er es spüren konnte – den Augenlidern, der Nasenspitze, den Mundwinkeln.
«Halt dich fest», mahnte er, verlagerte das Gewicht und setzte sie auf seinen rechten Schenkel. «Siehst du das Meer?»
«Ja», sagte sie. «Aber eigentlich nur weil ich weiß, dass es da ist. Sehen kann ich nur ein schwarzes Nichts.»
Wie befreit atmete Reuben den würzigen Geruch des gigantischen Baums ein und lauschte auf den vielstimmigen Chor des Waldes. Überall in seinem Blätterdach regte sich Leben.
Laura drückte ihm den Kopf an die Brust.
Lange saßen sie so da. Er genoss den Anblick des Meeres, des Himmels und der fernen Sterne. Immer wieder schoben sich Wolken vor den Mond, und dann schien es, als durchlöchere er sie mit seinem Licht. Der salzige Wind raschelte in den Blättern.
Plötzlich spürte Reuben einen Hauch von Gefahr. Oder war bloß eine andere Kreatur in der Nähe? Er war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er Laura nichts davon sagen konnte. Hier oben war sie von ihm vollkommen abhängig. Er horchte.
Glattnasenfledermäuse lebten in dieser Höhe, Flughörnchen, Meisen und Streifenhörnchen. Doch warum sollten Tiere wie diese seinen Beschützerinstinkt wecken? Was immer ihn irritiert hatte, war wieder verschwunden. Wahrscheinlich lag es an Laura, dachte er, dass er übervorsichtig und so schreckhaft war.
Alles war gut.
Doch dann musste er wieder an den Jungen denken. Eine Katastrophe!
Er betete, dass der Wald ihn schützen und vor Gewissensqualen bewahren möge. Früher waren die Stimmen von Grace, Phil, Jim oder Celeste sein Gewissen gewesen. Das war jetzt anders. Jetzt war es
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