Das Geschenk der Wölfe
Blick durchs Zimmer schweifen, und Reuben spürte, dass sie unruhig wurde, als sie auf das dunkle Sideboard blickte, den marmornen Kaminsims und den runden Kronleuchter, dessen Kerzen nicht angezündet worden waren – offenbar schon länger nicht, da sie ganz staubig waren.
«Was haben wir in diesem Zimmer nicht alles erlebt», sagte sie. «Onkel Felix hatte mir versprochen, mich in alle Ecken der Welt mitzunehmen, wir hatten so viele Pläne. Zuerst sollte ich aber das College abschließen, da war er ganz streng. Danach wollten wir eine Weltreise machen.»
«Werden Sie nicht todunglücklich sein, wenn Sie dieses Haus verkaufen?» sagte Reuben. «Vielleicht bin ich ein bisschen betrunken, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie es bereuen werden, wenn das Haus weg ist.»
«Nein, damit habe ich abgeschlossen», sagte Marchent. «Ich wünschte, Sie könnten mein Haus in Buenos Aires sehen. Nein, nein, das hier ist wie eine Pilgerfahrt, eine Reise in die Vergangenheit. Dieses Haus ist für mich lediglich ein Ort, an dem ich noch etwas zu erledigen habe.»
Plötzlich verspürte Reuben den Drang, ihr zu sagen, dass er das Haus kaufen wolle und sie ihn jederzeit hier besuchen könne. Aber das war anmaßender Unsinn. Seine Mutter hätte ihn lauthals ausgelacht.
«Es ist ja schon neun», sagte Marchent plötzlich mit Blick auf die Uhr. «Wie die Zeit vergangen ist! Kommen Sie, lassen Sie uns nach oben gehen und uns den Rest morgen bei Tageslicht ansehen.»
Sie sahen sich einige Schlafzimmer mit interessanten Tapeten an und Badezimmer mit altmodischen Kacheln, Waschschüsseln und Wannen, die auf Klauenfüßen standen. Das meiste waren amerikanische Antiquitäten, aber es waren auch europäische dabei. Die Zimmer waren geräumig, bequem eingerichtet und einladend, momentan allerdings staubig und kalt.
Dann öffnete Marchent die Tür zu «einer von Felix’ persönlichen Bibliotheken», bei der es sich eher um ein großes Arbeitszimmer handelte. An den Wänden hingen Tafeln wie in einer Schule, Pinnwände und jede Menge Bücherregale.
«Hier ist seit zwanzig Jahren nichts angerührt worden», sagte Marchent und zeigte auf die Fotos, Zeitungsausschnitte und verblichenen Notizen. Selbst die Schrift auf den Tafeln war noch zu sehen.
«Unglaublich», sagte Reuben.
«Felice glaubt nämlich immer noch, dass er eines Tages heimkommt, und es hat Zeiten gegeben, als auch ich es glaubte. Jedenfalls habe ich nicht gewagt, etwas anzurühren. Als ich herausfand, dass meine Brüder hier eingedrungen waren und Sachen gestohlen hatten, war ich entsetzt.»
«Ich habe die doppelten Schlösser gesehen.»
«Tja, so weit ist es schon gekommen. Außerdem habe ich eine Alarmanlage installieren lassen. Aber ich glaube, Felice schaltet sie nicht ein, wenn ich weg bin.»
«Diese Bücher hier sind auf Arabisch geschrieben, oder?» Reuben ging an den Regalen entlang. «Und das hier? Das kann ich nicht entziffern.»
«Ich auch nicht», sagte Marchent. «Onkel Felix wollte, dass ich alle Sprachen lerne, die er beherrschte, aber dazu fehlte es mir an Talent. Er dagegen lernte Sprachen im Vorbeigehen.»
«Das hier ist Italienisch und das da Portugiesisch.» Reuben blieb am Schreibtisch stehen. «Ist das sein Tagebuch?»
«Ein Mittelding zwischen Tagebuch und Arbeitskladde. Ich nehme an, dass er das aktuelle Tagebuch auf seine letzte Reise mitgenommen hat.»
Die blau linierten Seiten waren mit eigenartigen Zeichen beschriftet. Nur das Datum war lesbar: 1 . August 1991 .
«Es ist an der Seite aufgeschlagen, die er zuletzt geschrieben hat», sagte Marchent. «Was für eine Sprache könnte das sein? Es haben sich schon einige Leute damit beschäftigt, und sie haben unterschiedliche Vermutungen darüber angestellt. Es scheint sich um eine Mischung aus Geheimschrift und einem vorderasiatischen Dialekt zu handeln, der aber nicht mit dem Arabischen verwandt ist, wenigstens nicht direkt. Komplettiert wird das Ganze von Symbolen, die bislang niemand deuten konnte.»
«Merkwürdig», murmelte Reuben.
Das Tintenfass war eingetrocknet. Daneben lag ein Füller, in den in goldenen Buchstaben ein Name eingraviert war: FELIX NIDECK . Auf dem Schreibtisch stand auch ein gerahmtes Foto. Es zeigte die sechs Männer, die in lässiger Haltung und offenbar bester Laune mit Weingläsern in den Händen unter Blumengirlanden standen. Alle strahlten. Felix hatte die Arme um den großen blonden helläugigen Sergej gelegt, und Margon, der Gottlose, lächelte
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