Das Geschenk der Wölfe
zufrieden in die Kamera.
«Der Füller war ein Geschenk von mir», sagte Marchent. «Er liebte Füller, allein schon wegen des Geräuschs, mit dem sie übers Papier gleiten. Diesen hier habe ich bei Gump’s in San Francisco gekauft. Sie dürfen ihn ruhig anfassen. Hauptsache, wir legen ihn wieder an seinen Platz.»
Reuben zögerte. Vor allem das Tagebuch hätte er gern berührt, aber ein kalter Schauder hatte ihn erfasst, und ihm war, als spürte er die Anwesenheit einer anderen Person, die er nicht identifizieren konnte. War es der Mann auf dem Foto, der so glücklich wirkte, dessen Augen von Lachfältchen umspielt wurden und dessen Haar in einer leichten Brise flatterte?
Reuben sah sich um … die vollgestopften Regale, die alten Landkarten an den Pinnwänden und auf dem Schreibtisch … Er fühlte sich diesem Mann sehr verbunden, auch wenn es vielleicht nur eine vorübergehende Laune war.
«Wie gesagt: Sobald sich ein Käufer findet, lasse ich diese Sachen einlagern. Schon vor längerer Zeit habe ich alles abfotografieren lassen. Jedes Regal, jeder Schreibtisch, jede Pinnwand gibt es als Fotodatei. Das ist allerdings die einzige Inventarisierung, die ich bislang vorgenommen habe.»
Reuben starrte auf eine der Schultafeln. Die Kreideschrift war verblasst, aber sie war auf Englisch, und er konnte sie ohne weiteres entziffern. Halblaut sprach er vor sich hin: «‹Der Schein festlicher Fackeln, Petroleumlampen und brennender Scheiterhaufen, die ihm zu Ehren entzündet worden waren, die Pracht des königlichen Hofes, dessen hellster Stern er war – alles schien in diesem einzigartigen Juwel zu leuchten und eine Strahlkraft zu entfalten, die sich sowohl aus der Zukunft als auch aus der Vergangenheit speiste.›»
«Sie lesen das wunderbar», flüsterte Marchent. «Ich habe diese Worte noch nie ausgesprochen gehört.»
«Ich kenne diesen Text», sagte Reuben. «Ich muss ihn schon mal gelesen haben.»
«Ach, wirklich? Das hat noch keiner gesagt. Wo ist er Ihnen denn begegnet?»
«Lassen Sie mich nachdenken. Ich weiß, wer das geschrieben hat. Ja, genau, das ist Hawthorne, Nathaniel Hawthorne, eine Passage aus der Kurzgeschichte
Der antike Ring
.»
«Oh, das ist ja phantastisch! Moment mal.» Marchent begann, die Regale abzusuchen. «Hier. Das sind seine Lieblingsautoren.» Sie holte einen abgegriffenen Lederband mit Goldschnitt aus dem Regal und begann darin zu blättern. «Tatsächlich! Hier steht es. Es ist mit Bleistift unterstrichen. Das hätte ich niemals alleine gefunden.»
Ganz beglückt nahm Reuben das Buch entgegen. «Wie aufregend! Zum ersten Mal erweist sich mein Englischstudium als nützlich.»
«Bildung ist immer nützlich», sagte Marchent. «Wie kommen Sie darauf, dass sie unnütz sein könnte?»
Reuben begann zu lesen. Viele Stellen waren mit Bleistift angestrichen, und auch die merkwürdigen Symbole fanden sich hier wieder.
Marchent lächelte glücklich, aber vielleicht sah es im Licht der grünen Schreibtischlampe auch nur so aus. «Ich sollte Ihnen dieses Haus überlassen, Reuben Golding», sagte sie. «Hätten Sie die Mittel, um es instand zu halten?»
«Ohne weiteres», sagte er. «Aber Sie brauchen es mir nicht zu schenken, Marchent. Ich werde es kaufen.» Jetzt war es raus. Unwillkürlich wurde er rot, aber er schämte sich nicht, sondern war nur aufs äußerste erregt. «Ich muss nach San Francisco zurück, um mit meinen Eltern zu sprechen. Und mit meiner Freundin natürlich. Sie sollen verstehen, was es mir bedeutet, obwohl ich es so oder so kaufen werde – aber natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist. Glauben Sie mir, ich will es wirklich! Ich denke schon darüber nach, seit ich angekommen bin. Ich glaube, ich würde es mein Leben lang bereuen, jetzt nicht zuzugreifen. Und wenn ich das Haus tatsächlich kaufe, wird die Tür für Sie immer offen stehen, Marchent, Tag und Nacht.»
Marchent lächelte immer noch. Sie schien ganz präsent zu sein und zugleich weit, weit fort. «Sie haben also Geld?»
«Ja. Nicht so viel wie Sie, aber es reicht.» Reuben wollte nichts von den Grundstücksmaklern sagen, die den Wohlstand seiner Familie begründet hatten, auch nichts über das Treuhandvermögen, das er schon besessen hatte, bevor er überhaupt geboren wurde. Stattdessen dachte er an das Geschrei, das seine Mutter und Celeste anstimmen würden, wenn er ihnen von seinen Plänen erzählte. Grace arbeitete jeden Tag so hart, als sei sie mittellos, und von ihrem Sohn erwartete sie das
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