Das Geschenk der Wölfe
wenigstens so viel Bildung wie möglich anhäufen. Deswegen hat sie mir Zugang zu verschiedenen Ausgrabungsstätten verschafft.»
«Hat es Ihnen gefallen?»
«Mir fehlte die nötige Geduld», gestand Reuben. «Aber es war interessant, vor allem Çatalhöyük in der Türkei, eine der ältesten Ausgrabungsstätten der Welt.»
«Ja, da war ich auch schon», sagte Marchent und strahlte. «Es ist wirklich großartig. Haben Sie auch Göbekli Tepe gesehen?»
«Ja, in meinem letzten Sommer in Berkeley. Ich habe darüber sogar etwas für eine Zeitschrift geschrieben. Dadurch habe ich meinen jetzigen Job bekommen. Im Ernst, Marchent, ich möchte alle Schätze sehen, die dieses Haus birgt! Und ich möchte helfen, mich darum zu kümmern, was daraus wird. Vorausgesetzt, es ist Ihnen recht. Was halten Sie davon, wenn ich eine Reportage daraus mache, sobald mit dem Verkauf alles in trockenen Tüchern ist, eine Reportage über das kulturhistorische Erbe des Felix Nideck? Wäre das in Ihrem Sinne?»
Einen Moment lang sah Marchent ihn ganz überwältigt an. Dann sagte sie: «Mehr als ich sagen kann.»
Ihre Reaktion berührte Reuben zutiefst. Celeste schnitt ihm immer das Wort ab, wenn er über seine Ausflüge in die Archäologie sprach, und sagte Dinge wie: «Und was hat dir das gebracht, Reuben? Was hast du von diesen Ausgrabungen mitgenommen?»
«Wollten Sie nie Arzt werden, wie Ihre Mutter?», fragte Marchent.
Reuben lachte. «Ich kann mir dieses naturwissenschaftliche Zeug nicht merken», sagte er. «Ich kann Dickens und Shakespeare und Chaucer und Stendhal zitieren, aber alles, was ich über die Stringtheorie, DNA oder Schwarze Löcher erfahre, vergesse ich sofort wieder. Dabei habe ich versucht, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Aber es nützt nichts. Deswegen könnte ich niemals Arzt sein. Außerdem bin ich einmal in Ohnmacht gefallen, als ich Blut sah.»
Marchent lachte, ohne ihn auszulachen.
«Meine Mutter ist Unfallchirurgin. Sie führt jeden Tag fünf oder sechs Operationen durch.»
«Und sie ist enttäuscht, dass Sie nicht Medizin studiert haben.»
«Genau. Aber nicht so enttäuscht wie über meinen älteren Bruder Jim. Dass er Priester geworden ist, war der eigentliche Schlag. Wir sind zwar katholisch, aber das hätte meine Mutter nie gedacht. Ich habe meine eigene Theorie, warum er sich dazu entschlossen hat. Ich glaube, es ist etwas Psychisches. Aber er ist ein guter Priester. Er arbeitet in der Kirche St. Francis at Gubbio in San Francisco und leitet eine Tafel für Obdachlose. Er arbeitet mehr als meine Mutter. So viel wie die beiden arbeitet niemand, den ich kenne.» Celeste wäre in dieser Hitliste die Nummer drei.
Sie unterhielten sich über verschiedene Ausgrabungen. Reuben war noch nie der akribische Typ gewesen und deshalb nicht besonders gut darin, Tonscherben zu analysieren. Aber er konnte sich dafür begeistern. Er war erpicht darauf, die Tontafeln zu sehen.
Zunächst setzten sie ihr Gespräch aber fort. Marchent beklagte ihr «Versagen» gegenüber ihren Brüdern, die sich nie für das Haus oder Felix interessiert hätten, geschweige denn für Felix’ Nachlass.
«Nach dem Tod meiner Eltern wusste ich nicht, was ich tun sollte», sagte sie, stand auf und ging an den Kamin, um die Holzscheite so lange umzuschichten, bis die Flammen wieder aufloderten. «Zu dem Zeitpunkt hatten meine Brüder bereits fünf Internate durch. Einmal waren sie wegen Alkoholmissbrauchs rausgeschmissen worden, ein anderes Mal wegen Drogenkonsums, das dritte Mal wegen Drogenhandels.»
Sie kam an den Tisch zurück, und Felice brachte noch ein Viertel des hervorragenden Weins.
Dann erzählte Marchent vertrauensvoll weiter. «Es gibt kaum eine Entzugsklinik, die sie nicht von innen kennen, hier und auch im Ausland. Sie wissen ganz genau, was sie einem Richter erzählen müssen, um nicht eingesperrt, sondern in eine Klinik geschickt zu werden. Und wenn sie das geschafft haben, wissen sie auch, was sie den Therapeuten erzählen müssen. Es ist erstaunlich, wie sie es immer wieder schaffen, das Vertrauen der Ärzte zu gewinnen. Und natürlich nutzen sie ihre Klinikaufenthalte, um alles an Psychopharmaka zu klauen, was sie in die Finger kriegen können, bevor sie entlassen werden.»
Plötzlich sah sie besorgt auf und sagte: «Reuben, darüber werden Sie doch nicht schreiben, oder?»
«Niemals», sagte Reuben. «Aber den meisten Journalisten können Sie nicht trauen. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.»
«Mehr oder
Weitere Kostenlose Bücher