Das Geschenk der Wölfe
sich geliebt hatten. Es war erstaunlich, wie leicht es ihm gefallen war, Celeste zu betrügen. Dabei war das, was er getan hatte, gar nicht leicht gewesen. Schnell und impulsiv, aber nicht leicht, und das Gefühl war ungeheuer intensiv gewesen. Er bereute es nicht. Nicht im Geringsten. Er wusste, dass er sein Leben lang daran denken würde, und es schien bedeutender zu sein als das meiste, was er im Leben getan hatte.
Würde er Celeste davon erzählen? Er war sich nicht sicher. Jedenfalls würde er sie damit nicht überfallen, und er würde es nur tun, wenn sie es wirklich wissen wollte. Und das hatte zur Voraussetzung, dass sie sich ernsthaft miteinander unterhielten, über alles Mögliche. Zum Beispiel über die Tatsache, dass er sich in ihrer Gegenwart immer in der Defensive und ungenügend fühlte und dass er davon endgültig genug hatte. Selbst als viele ihn für seine Artikel im
Observer
gelobt hatten, hatte sie sich überrascht gezeigt. Das hatte ihn sehr verletzt.
Doch jetzt fühlte er sich wie neu geboren, beflügelt und schuldig zugleich. Und ein wenig wehmütig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Marchent ihn noch einmal in ihr Bett lassen würde. Außerdem war ihm ihre gönnerhafte Art nicht angenehm, wenn sie ihn beispielsweise ihren «schönen Jungen» nannte. Das hatte sie nämlich getan, als die Umarmung am heftigsten war, und in dem Moment hatte es ihm nichts ausgemacht. Jetzt aber schon.
Er hatte nicht erwartet, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickeln würden, aber alles schien miteinander zusammenzuhängen: Marchent, das Haus, Felix Nideck und das Mysterium der ganzen Familie.
Reuben stand auf und ging ins Badezimmer. Auf dem Marmorwaschbecken stand sein Rasierzeug, auf der Glasablage unter dem Spiegel fand sich alles, was er sonst noch brauchte, wie in einem guten Hotel. Es gab ein Fenster mit Vorhängen, das nach Westen hinausging. Tagsüber konnte man hier vermutlich das Meer oder die Klippen sehen.
Er duschte, putzte sich die Zähne und zog Pyjama, Bademantel und Schuhe an. Dann schlug er die Bettdecke zurück und schüttelte die Kissen auf.
Zum ersten Mal an diesem Abend sah er nach seinem Telefon. Er hatte zwei Nachrichten von seiner Mutter, eine von seinem Vater, zwei von seinem Bruder Jim und fünf von Celeste, aber ihm war jetzt nicht danach, auch nur eine zu beantworten. Stattdessen steckte er das Telefon in die Tasche des Bademantels und sah sich im Zimmer um.
Es beherbergte eine Menge wertvoller Dinge, die aber nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt und nur notdürftig abgestaubt worden waren. Auch die Tontafeln befanden sich darunter, kleine Platten aus gebranntem Ton, die so fragil wirkten, als könnten sie unter seiner Berührung zerfallen. Die feine Keilschrift war deutlich zu erkennen. Dann gab es Figuren aus Jade, Diorit und Alabaster. Manche stellten Götter dar, die er kannte, andere hatte er noch nie gesehen. Schachteln mit feinen Intarsien enthielten Papier- und Stofffetzen, Münzen und Gegenstände, die früher als Schmuck gedient haben mochten. Und dann natürlich Bücher, jede Menge Bücher, viele in allen möglichen asiatischen Sprachen, aber auch in etlichen europäischen.
Hawthornes Gesamtwerk war hier zu finden, aber auch einige jüngere Werke, wie Reuben ebenso überrascht wie erfreut zur Kenntnis nahm. James Joyce’
Ulysses
war völlig zerlesen und vollgestopft mit Notizzetteln. Dann gab es Bücher von Hemingway, Eudora Welty und Zane Grey, alte Gespenstergeschichten, von britischen Autoren wie M. R. James und Algernon Blackwood oder dem Iren Sheridan Le Fanu.
Reuben wagte nicht, diese Bücher anzufassen. Manche steckten voller Notizen, und die älteren Taschenbücher drohten auseinanderzufallen. Trotzdem war er erneut von dem Gefühl durchdrungen, dass er Felix kannte und liebte, nicht unähnlich den Gefühlen, die ihn in der Pubertät als Fan von Catherine Zeta-Jones oder Madonna überkommen hatten, solange er sie für die wunderbarsten und begehrenswertesten Geschöpfe der Welt hielt. Er verspürte eine regelrechte Sehnsucht danach, Felix kennenzulernen, ihm nahe zu sein, sich in seiner Welt zu bewegen. Doch Felix war tot.
Plötzlich ging seine Phantasie mit ihm durch. Er könnte Marchent heiraten und dann zusammen mit ihr hier wohnen. Für sie würde er das Haus wieder mit Leben füllen. Zusammen würden sie Felix’ Aufzeichnungen durchforsten. Vielleicht würde er die Geschichte des Hauses veröffentlichen, dazu die Lebensgeschichte von
Weitere Kostenlose Bücher