Das Geschenk der Wölfe
Gleiche. Auf seine Art hatte auch Phil sein Leben lang gearbeitet. Und dann war da Jim, der alles aufgegeben hatte, um Priester zu werden. Er dagegen würde sein Kapital antasten, um dieses Haus zu kaufen. Aber das war es ihm wert. Celeste würde es ihm nie verzeihen. Aber das war ihm gleichgültig.
«Das dachte ich mir schon», sagte Marchent. «Dann arbeiten Sie also nicht, weil Sie Geld verdienen müssen? Sie haben ein schlechtes Gewissen wegen Ihres Reichtums, nicht wahr?»
«Ja, ein bisschen», murmelte Reuben.
Marchent streckte die Hand aus und legte sie an seine Wange. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sagte nichts. Ihre Stirn legte sich in Falten, aber ihr Mund lächelte noch.
«Mein lieber Junge», sagte sie. «Wenn du eines Tages einen Roman über dieses Haus schreiben solltest, wirst du ihn
Kap Nideck
nennen, und auch ich werde darin vorkommen, nicht wahr?»
Reuben zog sie näher an sich. «Ich werde deine wunderschönen Augen beschreiben und dein weiches goldenes Haar, deinen schlanken Hals und deine Hände, die mich an flatternde Vögel erinnern, wenn du gestikulierst. Und deine Stimme, deine klare, präzise Aussprache, die an flüssiges Silber erinnert.»
Ja, ich werde schreiben
, dachte er.
Bedeutungsvolle, wunderbare Dinge. Ich kann es. Und ich werde meine Texte dir widmen, weil du die Erste bist, die es mir zutraut.
«Wer hat das Recht zu sagen, ich hätte kein Talent, keine Leidenschaft …», murmelte er vor sich hin. «Warum sagt jemand so etwas zu einem jungen Menschen? Das ist doch nicht fair, oder?»
«Nein, mein Lieber, das ist es nicht», sagte Marchent. «Ich frage mich nur, warum du auf so etwas überhaupt hörst.»
Plötzlich verstummten die kritischen Stimmen in Reubens Kopf, und erst dann merkte er, wie laut sie die ganze Zeit gewesen waren. Hatte er je eine ruhige Minute gehabt?
Sonnyboy, mein Baby, mein Kleiner, kleiner Bruder, kleiner Reuben … Was verstehst du schon vom Tod? Was verstehst du vom Leid? Was bildest du dir ein? Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen! Du hast dich doch nie gründlich mit etwas beschäftigt!
All das zählte nicht mehr. Er sah seine Mutter vor sich. Dann Celeste mit ihrem kleinen, lebhaften Gesicht und den großen braunen Augen. Aber er hörte ihre Stimmen nicht mehr.
Er beugte sich vor, um Marchent zu küssen. Sie wandte sich nicht ab. Ihre Lippen waren so weich wie die eines Kindes. Er küsste sie ein zweites Mal. Er spürte, dass dieser Kuss etwas in ihr erweckte, und im selben Moment ergriff auch ihn die Leidenschaft.
Als Nächstes spürte er ihre Hand auf seiner Schulter, und sie stieß ihn sanft fort. Dann senkte sie den Kopf und holte tief Luft, nahm seine Hand und führte ihn zu einer geschlossenen Tür.
Reuben war sich sicher, dass dahinter ein Schlafzimmer lag, und er fasste einen Entschluss. Es spielte keine Rolle, was Celeste davon hielt, falls sie je etwas davon erfuhr. Auf keinen Fall wollte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen.
Marchent zog ihn mit sich in ein dunkles Zimmer und knipste eine schummrige Lampe an.
Erst nach und nach begriff er, dass sie in einer Art Galerie standen, die zugleich ein Schlafzimmer war. Überall standen alte Statuen auf Sockeln, in Regalen und auf dem Boden.
Das Bett stammte aus dem England des Elisabethanischen Zeitalters und war wie eine Kammer in der Kammer, mit einem Dach und geschnitzten Holztüren, die man gegen die nächtliche Kühle schließen konnte.
Die Bettdecke aus grünem Samt war staubig, aber das war ihm vollkommen egal.
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2
E r erwachte aus einem tiefen Schlaf. Aus dem offenen Badezimmer drang Licht herein. Ein dicker weißer Frottee-Bademantel hing auf einem Bügel an der Tür.
Seine Ledertasche lag auf einem Stuhl, und sein Pyjama lag für ihn bereit, zusammen mit einem frischen Hemd für den nächsten Tag und seinen anderen Sachen. Seine Hose war ordentlich zusammengelegt, seine Socken vom Vortag ebenfalls.
Er hatte die Tasche im Wagen gelassen, den er allerdings nicht abgeschlossen hatte. Sie war also im Dunkeln rausgegangen, um sie für ihn zu holen, was ihn ein wenig beschämte, aber nicht über die Maßen, denn dafür war er viel zu glücklich und entspannt.
Er lag auf dem nicht zurückgeschlagenen Samtüberwurf des Betts, aber jemand hatte die Kissen unter der Decke hervorgeholt, und die Schuhe, die er in der Eile achtlos von sich geschleudert hatte, standen nebeneinander unter dem Stuhl.
Er blieb liegen und dachte daran, wie sie
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