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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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letzten Kräfte, um sich wach zu halten, und flüsterte: «Ich sterbe. Alle sind schon tot, Marchent ist tot. Und jetzt sterbe ich auch. Ich muss Hilfe holen.»
    Er tastete nach seinem Telefon, aber da war nur der blutgetränkte Fußboden. Mit der linken Hand drückte er auf seine schmerzende Bauchwunde und spürte, wie das Blut durch seine Finger rann.
Wer so viel Blut verliert, kann nicht überleben.
    Mühsam drehte er sich auf die Seite und versuchte aufzustehen oder wenigstens in die Hocke zu gehen. Doch als die schwarze Welle zurückkehrte, ging er wieder zu Boden.
    Von irgendwo kam ein Geräusch, ein leiser, an- und abschwellender Ton. Dazu bewegte sich ein Lichtstrahl durch die Dunkelheit auf ihn zu.
    Bildete er sich das alles nur ein? Träumte er? Oder war es das, was man hörte und sah, wenn man starb?
    Er hätte nicht gedacht, dass der Tod so leise kommen würde, so rätselhaft, so leicht. «Marchent», flüsterte er. «Es tut mir so leid!»
    Doch dann ertönte wieder das Geräusch, dieses Mal wie eine Sirene. Ein zweiter Lichtstrahl bewegte sich durch die Dunkelheit auf ihn zu. Zwei tönende Lichtstrahlen wogten hin und her, vor und zurück, aber sie kamen immer näher. Dann kam ein dritter hinzu.
    Wie merkwürdig!
    Die Sirenen waren jetzt ganz nah, wurden aber leiser, und jemand schien die Lichtstrahlen zurückzuziehen. Dann klirrte Glas.
    Reuben trieb durch die Dunkelheit.
Zu spät, Freunde.
Das war aber nicht schlimm. Alles war so schnell gegangen, und eigentlich fand er es nur interessant.
Du stirbst, Reuben.
Er wehrte sich nicht dagegen und hoffte nichts mehr.
    Jemand beugte sich über ihn. Lichter leuchteten an verschiedenen Stellen auf und fuhren an der Wand entlang. Es war wunderschön.
    «Marchent», flüsterte er. «Sie haben sie erwischt.» Er merkte, dass er nicht deutlich genug sprach. Irgendeine Flüssigkeit füllte seinen Mund.
    «Nicht sprechen», sagte ein Mann und kniete sich zu ihm. «Wir kümmern uns um Sie. Wir tun, was wir können.»
    Das nutzte nichts mehr. Reuben wusste es. Dafür war es viel zu still gewesen. Außerdem klang der Mann so traurig, dass ganz klar war: Für Marchent war es zu spät. Die schöne, elegante Frau, die er nicht mal einen Tag lang gekannt hatte, war tot. Sie musste sofort tot gewesen sein.
    «Schön wach bleiben!», sagte der Mann.
    Reuben spürte, dass er hochgehoben wurde. Dann drückte man ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Jemand riss seinen Pyjama auf.
    Ein Walkie-Talkie rauschte und knisterte.
    Reuben wurde auf eine Trage gelegt und im Laufschritt fortgeschoben.
    «Marchent», murmelte er.
    Das gleißende Licht im Krankenwagen blendete ihn. Er wollte nicht von hier weggebracht werden. Er bekam Panik und wollte fliehen, aber jemand drückte ihn auf die Trage, und er verlor das Bewusstsein.

[zur Inhaltsübersicht]
    4
    I n den nächsten zwei Stunden verlor Reuben in der Notaufnahme in Mendocino immer wieder das Bewusstsein. Dann wurde er mit einem Rettungshubschrauber ins San Francisco General geflogen, wo Dr. Grace Golding und ihr Mann Phil ihn schon erwarteten.
    Er wehrte sich gegen die Riemen, mit denen er an die Trage geschnallt war. Der Schmerz und die Medikamente machten ihn ganz verrückt.
    «Sie wollen mir nicht sagen, was passiert ist», beklagte er sich bei seiner Mutter, die sofort verlangte, dass die Polizei ihm Auskunft erteilen sollte.
    Das Problem sei, so die Polizei, dass er von den Medikamenten zu benommen sei, um ihre Fragen zu beantworten, und momentan hätten sie mehr Fragen an ihn als er an sie. Eins könnten sie jedoch bestätigen: Marchent Nideck sei tot.
    Erst als Celeste sich ans Telefon hängte und mit den Behörden in Mendocino sprach, wurden die Dinge klarer.
    Jemand hatte mindestens sechzehnmal auf Marchent eingestochen, und zehn dieser Wunden waren potenziell tödlich. Sie sei innerhalb weniger Minuten gestorben, vielleicht sogar Sekunden. Sollte sie gelitten haben, dann nur ganz kurz.
    Zum ersten Mal seit dem Kampf schloss Reuben die Augen aus freiem Willen und schlief ein.
    Als er wieder aufwachte, stand ein Polizist in Zivil an seinem Bett und stellte ihm eine Menge Fragen. Zu benommen, um deutlich sprechen zu können, sagte Reuben: Ja, er habe «intimen Kontakt» mit der Verstorbenen gehabt. Nein, er habe nichts gegen einen DNA -Test. Ihm war ohnehin klar, dass die Autopsie es ans Licht bringen würde.
    Er schilderte die Ereignisse, so gut seine Erinnerung es zuließ. Nein, er habe die Polizei nicht gerufen. Sein

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