Das Geschenk der Wölfe
klickte die Fotos an. Er war sich sicher, dass es Fotos vom guten alten Reuben Golding sein würden. Sie wären der Beweis, dass er langsam verrückt wurde.
Doch da war er, der Wolfsmensch!
Sein Herz blieb beinahe stehen.
Der große Kopf, die braune Mähne, die ihm auf die Schulter fiel, die lange Nase mit der schwarzen Spitze und die Reißzähne, die aus dem schwarz geränderten Mund herausragten.
Aber blaue Augen, deine blauen Augen!
Er legte die Hand auf den Mund und zitterte am ganzen Körper. Dann betrachtete er sich im Spiegel, und sein Blick blieb an seinen wohlgeformten, beinahe rosafarbenen Lippen hängen. Er sah auf das Foto, auf den schwarz geränderten, riesigen Mund. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Wolfsmensch, ein Monster! Er klickte ein Foto nach dem anderen an.
Großer Gott …
Die Kreatur hatte lange, spitze Ohren, die aufgestellt und fast zur Hälfte von dichtem Kopffell verdeckt waren. Die Stirn stand vor, ohne die großen Augen zu überwölben. Sie allein hatten menschliche Proportionen. Das Tier glich keinem, das Reuben je gesehen hatte – am allerwenigsten den an Teddybären erinnernden Werwölfen aus alten Filmen. Am ehesten ähnelte es einem hochgewachsenen Satyr.
«Wolfsmensch», flüsterte er.
Ist es das, was mich in Marchents Haus fast umgebracht hat? Ist es das, was mich mit dem Maul hochgehoben und mir beinahe Hals und Brust aufgerissen hätte, genau wie Marchents Brüdern?
Er überspielte die Fotos auf seinen Computer. Dann rief er eins nach dem anderen auf. Und staunte. Auf einem hielt er die Pfote hoch. Das war doch er, oder? Es war Unsinn, von dem Wesen als «es» zu denken. Er sah sich die Pfote genauer an, die dicken, behaarten Linien, die einmal seine Finger gewesen waren.
Ihm fiel ein, dass Haare aus seinem Fell auf den Boden gefallen waren, und er ging ins Bad zurück, um sie zu suchen. Doch er konnte sie nicht finden. Stattdessen lagen dort winzige, feine Flöckchen, kaum zu sehen, und als er sie aufheben wollte, zerfielen auch sie.
Ah, sie vertrocknen, lösen sich auf, verflüchtigen sich. Der Beweis ruht in mir
–
oder nicht einmal dort. Vielleicht hat nichts von alledem Bestand.
Deshalb also wurden in Mendocino keine Spuren gefunden!
Er erinnerte sich an die Magenkrämpfe, an das unbeschreibliche Wohlgefühl, das jede Faser seines Körpers ergriffen hatte, wie magische Musik.
Auf seinem Bett fand er die gleichen in Auflösung begriffenen Haare, die sich ebenfalls verflüchtigten, als er sie anfassen wollte.
Er setzte sich aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu lachen. Aber es war ein erschöpftes, verzweifeltes Lachen. Er lachte, bis er zu ausgelaugt war, um weiterzulachen, und sich wieder hinlegte.
Eine Stunde später lag er immer noch im Bett und spürte seinen Erinnerungen nach. Der Geruch der Gasse, Müll und Urin; der Geruch der Frau, eine Mischung aus Parfüm und einer sauren, zitrusähnlichen Note. War es der Geruch der Angst? Er wusste es nicht. Um ihn herum hatte es vor Gerüchen und Geräuschen nur so gewimmelt, aber er hatte sich voll und ganz auf den Geruch des Mannes konzentriert, die anschwellenden Ausdünstungen seiner Bosheit.
Das Telefon klingelte. Er ignorierte es. Es klingelte wieder. Es spielte keine Rolle.
«Du hast jemanden getötet», murmelte er. «Willst du darüber nicht mal nachdenken? Hör auf, an die Gerüche zu denken, an die aufregenden Sinneseindrücke, an den Sprint über die Hausdächer, an die Vier-Meter-Sprünge in die Luft! Hör auf! Du hast getötet!»
Aber er konnte keine Reue empfinden. Kein bisschen. Der Mann war drauf und dran gewesen, die Frau umzubringen, und hatte ihr bereits irreparablen Schaden zugefügt, sie in Angst und Schrecken versetzt, sie gewürgt und sich ihr gewaltsam aufgedrängt. Es war ein Mann, der anderen geschadet hatte. Hätte er weitergelebt, hätte er es immer wieder getan. Da war er sich ganz sicher. Er hatte es gerochen. Der Geruch des Mannes, seine Aura, hatte ihm verraten, dass der Mann ein Killer war.
So wie Hunde Angst riechen konnten, konnte er Hilflosigkeit riechen. Und das Böse, das sich in einem Gewaltakt Bahn brach.
Nein, es tat ihm nicht leid. Die Frau lebte. Er hatte gesehen, wie sie weggerannt war, nicht nur der belebten Straße entgegen, den Lichtern, dem Verkehr, sondern dem Leben entgegen, einem Leben, das ihr in höchster Not wiedergeschenkt worden war.
Er stellte sich Marchent vor, wie sie mit einer Waffe in der Hand aus ihrem Arbeitszimmer
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