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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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rannte. Er sah, wie die Männer sie jagten, bis sie auf den harten Küchenfußboden stürzte. Sie starb. Ihr Leben war beendet.
    Alles Leben um sie herum schien ausgelöscht. Der Redwoodwald vorm Haus starb, aus allen Zimmern des Hauses wich jegliches Leben. Die Küche schrumpfte, der Boden, auf dem sie lag, verschwand. Bis nichts übrig blieb als das Nichts, das sie verschluckte. Es war das Ende von Marchent gewesen.
    Gab es ein Erwachen im Jenseits? Würde ihre Seele im Licht einer unendlichen, alles umfassenden Liebe wiederauferstehen? Woher sollten wir das wissen, bevor wir selbst dahin gelangten? Reuben versuchte sich Gott vorzustellen, einen Gott, so groß wie das Universum mit seinen Millionen von Sternen und Planeten, unendlichen Weiten, Geräuschen und Stille. Ein solcher Gott müsste alles kennen und wissen,
alles
. Auch die Gedanken und Gefühle, Ängste und Kümmernisse jedes einzelnen Lebewesens, von der dreckigsten Ratte bis zum edelsten Menschen. Dieser Gott könnte die Seele einer sterbenden Frau, die elend auf einem Küchenfußboden verreckte, aufnehmen, ganz und unversehrt und in all ihrer Schönheit. Er würde sie in seine kraftvollen Hände nehmen und in einen Himmel jenseits unserer Welt tragen, wo sie für immer mit ihm vereint wäre.
    Doch wie konnte Reuben sich da sicher sein? Woher sollte er wissen, was hinter der Stille lag, die sich im Korridor von Kap Nideck in ihm ausgebreitet hatte, als er kaum noch Luft bekam und alles Leben aus ihm zu weichen drohte, so wie es schon aus den beiden Männern gewichen war, auf denen er lag?
    Er sah bildlich vor sich, wie der Redwoodwald starb, wie die Zimmer des Hauses schrumpften und verschwanden, wie alles Materielle verging und Marchent starb.
    Dann sah er wieder das Opfer des Vergewaltigers, wie die Frau um ihr Leben rannte. Er sah, wie die ganze Stadt um sie herum Gestalt annahm, mit Myriaden von Gerüchen, Geräuschen und grellen Lichtern; ausgehend von der rennenden Frau erstreckten sich diese Dinge in alle Richtungen, bis zu den dunklen Wassern der Bucht, den fernen Bergen, den vorüberziehenden Wolken. Schreiend griff die Frau nach dem Leben.
    Nein, er bereute es nicht. Kein bisschen. Diese Anmaßung, diese Gier des Mannes, als er die Frau würgte und ihr das Leben nehmen wollte! Die Habsucht und Selbstherrlichkeit der Brüder, als sie ihre Messer wieder und wieder in dieses wunderbare Wesen stießen, das ihre Schwester war!
    «Nein, wirklich nicht», murmelte Reuben.
    Noch nie hatte er über solche Dinge nachgedacht. Aber es ging nicht um ihn. Es ging um die anderen. Sie musste er im Auge behalten. Ohne Reue. Er wurde ganz ruhig.
    Schließlich stand er auf, wusch und kämmte sich.
    Als er sein Spiegelbild sah, erschrak er. Natürlich, er war Reuben, kein Wolfsmensch. Aber er war nicht der Reuben von einst. Sein Haar war dichter und länger, und er war größer und breitschultriger. Was immer mit ihm vorging, welche Alchemistenküche auch immer sein Körper beherbergte – man sah ihm die Veränderung an. In seinem Inneren brodelte etwas, das einen robusteren Körper benötigte.
    Grace hatte von Hormonen gesprochen, die er neuerdings wieder ausschüttete. Wachstumshormone. Sie vergrößern die Stimmbänder, die Beine, beschleunigen das Haarwachstum. Ganz normale Wachstumshormone eben. Doch die Hormone, die sein Körper produzierte, hatten noch andere Funktionen, viel komplexere, die von den Labortests nicht erfasst werden konnten. In seinem Körper ging etwas vor, das dem Zustand eines sexuell erregten Mannes ähnelte, der unabhängig davon, was er dachte oder wollte, von körperlicher Lust übermannt wurde und am ganzen Körper erstarkte. Seine Hormonproduktion lief auf Hochtouren.
    Reubens naturwissenschaftliches Verständnis hatte sich immer in Grenzen gehalten. Vielleicht glich der Versuch, die inneren Vorgänge seines Körpers zu verstehen, eher dem Versuch, hinter die Geheimnisse der Magie zu kommen. Doch er spürte, dass etwas Reales, Materielles hinter dem steckte, was pure Magie zu sein schien. Woher kam seine Fähigkeit zur Verwandlung? Vom Speichel des Tiers, das ihn gebissen hatte? Es hätte ihn mit dem tödlichen Virus der Tollwut anstecken können, stattdessen hatte es ihm die Fähigkeit zur Verwandlung verliehen. Aber was für eine Kreatur war es gewesen? Ein Wolfsmensch, so wie er selbst nun einer war?
    Hatte diese Kreatur Marchents Schreie genauso gehört, wie er die Schreie des Vergewaltigungsopfers gehört hatte? Hatte diese

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