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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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überrascht. «Wo um alles in der Welt hast du gesteckt? Die Stadt fängt schon an, die Schulbusgeschichte zu vergessen. Stattdessen sind alle im Werwolffieber. Wenn mich noch ein einziger Idiot fragt, was mein Freund dazu sagt, flüchte ich aus dem Büro und verbarrikadiere mich in meiner Wohnung.» Sie redete weiter und erzählte ihm das Neueste über die «Drogennutte» aus North Beach, die behauptete, ein Zwischending aus Frankensteins Monster und Yeti habe sie gerettet.
    Von Billie kam eine SMS : «Komm sofort!»
    Er konnte das Stimmengewirr im Büro der Lokalredaktion schon hören, bevor er aus dem Fahrstuhl trat, und ging ohne Umweg über das Großraumbüro der Kollegen in Billies Büro.
    Die Frau, die vor Billies Schreibtisch saß, kannte er, aber er konnte sie nicht gleich zuordnen. Auch den Geruch in Billies Büro kannte er. Er erinnerte ihn an eine Situation, die höchst ungewöhnlich war, aber er wusste nicht gleich, welche. Jedenfalls war es ein angenehmer Geruch, er transportierte etwas Gutes. Natürlich! Es war der Geruch der Frau, die beinahe vergewaltigt worden wäre. Daneben konnte er auch Billies Geruch ausmachen, ganz deutlich sogar. Aber da waren noch mehr Gerüche. Genau genommen wimmelte es von Gerüchen. Kaffee und Popcorn. So deutlich hatte er diese Aromen noch nie zuvor wahrgenommen. Auch die Gerüche aus den nahen Toiletten, und die waren ihm nicht mal unangenehm.
    Aha, so ist das jetzt also, dachte er. Ich nehme Gerüche wahr wie ein Wolf. Und Geräusche dazu.
    Die Frau weinte – eine feingliedrige Brünette in einem leichten Wollkostüm. Um den Hals hatte sie ein Seidentuch geschlungen. Ein Auge war zugeschwollen.
    «Gott sei Dank sind Sie gekommen», sagte sie, als Reuben eintrat.
    Er setzte sein charmantestes Lächeln auf.
    Die Frau griff nach seiner linken Hand und zog ihn beinahe in den Stuhl neben sich. In ihren Augen standen Tränen.
    Billie begann zu sprechen, und es klang wie Donnergrollen.
    «Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen! Miss Susan Larson hier möchte mit keinem anderen als dir sprechen. Kein Wunder, wo sich doch die ganze Stadt über sie lustig macht.»
    Unsanft warf Billie ihm den
San Francisco Chronicle
zu.
    «Das da hat sich zum Stadtgespräch gemausert, während du deinen Schönheitsschlaf gehalten hast, Reuben. ‹Frau von Wolfsmensch gerettet›. Und CNN titelt: ‹Mysteriöse Bestie schlägt Vergewaltiger in San Franciscos Gassen in die Flucht›. Seit heute Mittag verbreitet sich die Geschichte wie ein Lauffeuer. Wir hatten sogar schon Anrufe aus Japan!»
    «Worum geht es überhaupt?», fragte Reuben, aber er verstand nur zu gut.
    «Worum es geht?», schnappte Billie. «Was ist mit dir los, Reuben? Ein ganzer Bus voller Schulkinder ist verschwunden, und eine blauäugige Bestie treibt sich in den Gassen von North Beach herum. Und du fragst, worum es überhaupt geht?»
    «Ich bin nicht verrückt», sagte die Frau. «Ich weiß, was ich gesehen habe. Das Gleiche, was Sie in Mendocino gesehen haben, Mr. Golding! Ich habe gelesen, was Ihnen da oben passiert ist.»
    «Aber ich habe gar nichts gesehen», sagte Reuben und fühlte sich ganz elend. Wollte er der Frau etwa einreden, dass sie verrückt war?
    «Aber es war das Gleiche, was Sie beschrieben haben», sagte die Frau und klang fast hysterisch. «Das Keuchen, das Knurren, die Geräusche, die dieses Wesen machte. Aber es war kein Tier. Ich habe es gesehen. Es war ein Mensch, der wie ein Tier aussah. Ich weiß doch, was ich gesehen habe!» Die Frau beugte sich vor und starrte Reuben aus nächster Nähe an. «Ich spreche darüber mit niemandem außer Ihnen. Ich habe es satt, ausgelacht zu werden. ‹Frau von Yeti gerettet!› Wie können sie es wagen, darüber Witze zu machen?»
    «Geh mit ihr in den Konferenzsaal und hör dir ihre Geschichte an», sagte Billie. «Ich will deine Meinung dazu hören. Und ich will alle Einzelheiten, die von der Konkurrenz so selbstherrlich ignoriert werden.»
    «Man hat mir Geld angeboten», platzte es aus Miss Larson heraus. «Ich habe es abgelehnt, weil ich nur mit Ihnen sprechen will.»
    «Einen Moment mal, Billie», sagte Reuben und hielt Miss Larsons Hand. «Ich bin nicht der Richtige für diese Story, und du weißt ganz genau, warum. Seit dem Desaster in Mendocino sind gerade mal zwei Wochen vergangen, und du erwartest ausgerechnet von mir, dass ich über eine mysteriöse Tierattacke schreibe, die hier …»
    «Da liegst du verdammt richtig», sagte Billie. «Wer denn sonst?

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