Das Geschenk der Wölfe
Die Telefone stehen nicht still, Reuben. Alle wollen dich sprechen. Die Radiosender, das Fernsehen, sogar die
New York Times
! Alle wollen wissen, was du dazu sagst. Ob es dieselbe Bestie ist wie in Mendocino. Und falls du dich fragen solltest, ob auch die Menschen in Mendocino County uns mit Fragen bestürmen, kann ich nur sagen: Dreimal darfst du raten! Und du willst mit der Geschichte nichts zu tun haben? Es geht um
unser
Blatt, Reuben!»
«
Unser
Blatt, Billie, sollte etwas mehr Rücksicht auf mich nehmen», gab Reuben zurück. «Ich bin noch nicht so weit, dass ich …»
«Bitte, Mr. Golding! Bitte hören Sie mich an», sagte Miss Larson. «Verstehen Sie denn nicht, wie ich mich fühle? Ich wäre gestern Nacht beinahe gestorben. Diese Kreatur hat mir das Leben gerettet, aber ich bin zu einer internationalen Witzfigur geworden, weil ich erzählt habe, was ich gesehen habe.»
Reuben wusste nicht, was er noch sagen sollte. Das Blut hämmerte in seinen Ohren.
Wo, zum Teufel, bleiben Superman und seine Helfer?
Billies Telefon rettete ihn. Fünfzehn Sekunden lang horchte sie aufmerksam in den Hörer, grunzte und legte auf. Reuben wollte lieber nicht hören, was jetzt kam.
«Die Gerichtsmedizin bestätigt, dass es ein Tier war, ein Hund oder Wolf. Das wäre also schon mal geklärt.»
«Haben sie Haare oder Fell gefunden?», fragte Reuben.
«Es war kein Tier!», protestierte Miss Larson erneut und regte sich so auf, dass sie beinahe schrie. «Ich sage doch, dass es ein Gesicht hatte, ein menschliches Gesicht! Und es hat mit mir gesprochen. Mit ganz normalen Worten. Es wollte mir helfen. Es hat mich berührt, ganz sanft, um mich zu trösten. Also hören Sie auf, von einem Tier zu sprechen!»
Billie stand auf und forderte die anderen auf, ihr zu folgen.
Der Konferenzsaal war fensterlos und steril. Ein ovaler Mahagonitisch mit Chippendalestühlen stand in der Mitte. In den beiden Fernsehern an der Decke liefen ohne Ton CNN und Fox.
Gerade wurde das groteske, comicartige Bild eines Werwolfs gezeigt.
Reuben zuckte zusammen.
Plötzlich sah er wieder den Hausflur in Mendocino vor sich. Dieses Mal konnte er sehen, wie sich die Kreatur auf die beiden Männer stürzte, die ihn zu töten versuchten.
Er legte die Hand vor die Augen, und Billie griff nach seinem Handgelenk.
«Wach auf, Reuben!», sagte sie und wandte sich an die junge Frau. «Nehmen Sie bitte Platz und erzählen Sie Reuben alles, woran Sie sich erinnern können.» Dann brüllte sie ihrer Assistentin, Althea, zu, sie solle Kaffee bringen.
Miss Larson schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.
In Reuben stieg Panik auf. Er rückte näher an die Frau heran und legte einen Arm um ihre Schultern. Über einen der Bildschirme flimmerten Ausschnitte aus einem Film mit Lon Chaney junior als
Der Wolfsmensch
. Dann plötzlich das erste Panoramabild von Kap Nideck, das er je im Fernsehen gesehen hatte – sein Haus mit den spitzen Giebeln und den bleiverglasten Fenstern.
«Nein, nein», sagte Miss Larson mit Blick auf den Fernseher. «So war es nicht. Können Sie das bitte ausschalten? Er sah nicht aus wie Lon Chaney und auch nicht wie Michael J. Fox.»
«Althea!», brüllte Billie. «Schalte die scheiß Fernseher aus!»
Reuben war drauf und dran, aufzustehen und zu gehen. Doch das kam nicht in Frage.
«Was ist denn nun mit der Schulbusentführung?», fragte er.
«Was soll damit sein?», sagte Billie. «Darauf habe ich jemand anders angesetzt. Du kümmerst dich um den Wolfsmenschen, rund um die Uhr. Althea, bringen Sie Reubens Aufnahmegerät!»
«Das brauche ich nicht, Billie», sagte Reuben. «Ich benutze mein iPhone.» Er startete die Aufnahme.
Billie verließ den Saal und knallte die Tür hinter sich zu.
In der folgenden halben Stunde hörte Reuben der Frau zu, machte sich Notizen und hielt Blickkontakt.
Aber immer wieder gingen ihre Worte ungehört an ihm vorbei, denn er konnte nicht aufhören, an «die Bestie» zu denken, die ihn beinahe getötet hätte.
Er nickte, drückte der jungen Frau die Hand, und einmal nahm er sie sogar in den Arm. Aber in Gedanken war er ganz woanders.
Irgendwann kam Miss Larsons Lebensgefährte und bestand darauf, sie nach Hause zu bringen, obwohl sie gern noch weitergeredet hätte. Reuben begleitete die beiden zum Fahrstuhl.
Zurück an seinem Schreibtisch, starrte er auf die vielen Telefonnotizen, die ihm die Kollegen an den Computerbildschirm geklebt hatten. Althea meldete sich und sagte, Celeste sei auf
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