Das Geschenk der Wölfe
noch mal, ich habe ihr das Leben gerettet! Ich kann hier jetzt nicht im Büro sitzen und darüber schreiben! Ich bin der Letzte, der es tun sollte! Diese Sache ist bedeutungslos. Jedenfalls für mich.
Ihm wurde kalt. Eine sehr nette Kollegin, Peggy Flynn, brachte ihm einen Teller Kekse. Er lächelte so, wie er es immer getan hatte, obwohl ihm nicht nach Lächeln zumute war. Im Grunde war ihm nicht einmal klar, wer da vor ihm stand, was er mit dieser Kollegin je zu tun gehabt hatte und ob er überhaupt in der gleichen Welt lebte wie sie.
Das war’s: Sie lebten nicht in der gleichen Welt. Reuben schloss die Augen. Er spürte die Stelle, an der ihm Reißzähne gewachsen waren. Es hatte weh getan, als sie sich wieder zurückbildeten, als bohrten sie sich in ihn hinein.
Was, wenn er den Mann in der Gasse von North Beach nicht getötet hätte? Wäre er dann auch zum Wolfsmenschen geworden? Bei dieser Vorstellung lief es Reuben kalt den Rücken herunter.
Danke, lieber Gott, dass ich ihn getötet habe!
Halt, stopp! Was für ein Gebet war das denn?
Er saß da wie benommen.
Der Kaffee in seinem Becher sah wie Benzin aus, die Kekse auf seinem Teller wie aus Gips.
Nie wieder würde er in sein altes Leben, sein altes Selbst zurückkehren. Er hatte keine Wahl. Er hatte nicht einmal die Kontrolle darüber, wann er sich in welcher Gestalt befand.
Die Stimme eines Mitarbeiters der Gerichtsmedizin holte ihn in die Realität zurück. «Ja, ja, es war mit Sicherheit ein Tier. Das zeigen die Lysozyme in seinem Speichel. Die Anzahl der Lysozyme im menschlichen Speichel ist wesentlich geringer. Außerdem verfügen Menschen über mehr Amylase, zur Spaltung der Kohlenhydrate in unserer Nahrung. Bei Tieren liegt der Amylasewert niedriger, dafür verfügen sie über mehr Lysozyme, um die Bakterien abzutöten, die sie andauernd aufnehmen. Deswegen kann ein Hund aus einer Mülltonne oder Aas fressen, der Mensch aber nicht. Was bei diesem Tier allerdings merkwürdig ist: Es hat mehr Lysozyme als jeder Hund, und es befinden sich noch andere Enzyme in seinem Speichel, die wir bislang nicht analysieren konnten. Die entsprechenden Tests können Monate dauern.»
Nein, keine Haare, kein Fell, nichts der Art. Es wurden Fasern gefunden, oder man dachte jedenfalls, es seien Fasern gefunden worden, aber irgendwie seien sie verschwunden.
Reubens Herz klopfte bis zum Hals, als er das Telefonat beendete. Also war er tatsächlich zu etwas mutiert, das nicht menschlich war. Lag es letzten Endes doch an den Hormonen? Es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.
Auf jeden Fall musste er sich von jetzt an in seinem Zimmer einschließen, bevor es dunkel wurde.
Es war schon Herbst, fast Winter, und es war einer jener grauen, feuchten Tage, an denen es über San Francisco keinen Himmel, sondern nur ein triefendes Dach zu geben schien.
Um fünf Uhr beendete er seinen Artikel.
Er hatte Celeste noch einmal angerufen, die bestätigte, was der
Chronicle
über die Verletzungen und die zerrissenen Kleider von Miss Larson geschrieben hatte. Auch im General Hospital hatte er angerufen, aber dort wollte man ihm keine Auskunft geben, und Grace konnte nicht ans Telefon kommen, weil sie gerade operierte.
Er hatte auch abgecheckt, was die wichtigsten Online-Nachrichtendienste über die mysteriöse Tierattacke berichtet hatten. Dabei hatte er festgestellt, dass die Geschichte tatsächlich in Windeseile um die Welt gegangen war und dass in den meisten Berichten auf die ebenso mysteriöse Attacke in Mendocino Bezug genommen wurde. Erst jetzt wurde ihm klar, dass die Nachricht von Marchents Tod ebenfalls um die ganze Welt gegangen war. «Hat die mysteriöse Bestie wieder zugeschlagen?» – «Fabelwesen rettet Leben»
Zum Schluss hatte er sich Berichte aus North Beach angesehen, die Reporter bei YouTube eingestellt hatten. Darin war die Rede von der «Hinterhof-Bestie».
Erst danach hatte er seinen Artikel geschrieben und mit Miss Larsons eigenen Worten begonnen.
«Es hatte ein Gesicht. Es hat mit mir gesprochen. Es bewegte sich wie ein Mensch. Wie ein Wolfsmensch. [Miss Larson hatte denselben Begriff verwendet wie er selbst: Wolfsmensch.] Ich habe seine Stimme gehört. Gott, ich wünschte, ich wäre nicht vor ihm weggelaufen. Es hat mir das Leben gerettet, und ich bin vor ihm weggerannt, als wäre es ein Monster.»
Reubens Artikel war sehr persönlich gehalten, wenn auch nur im Ton. Der sehr lebendigen Beschreibung Miss Larsons folgten die Aussagen der
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