Das Geschenk der Wölfe
Leitung 2 .
«Was ist mit deinem Handy los?», fragte sie. «Warum kann ich dich nicht erreichen?»
«Keine Ahnung», murmelte Reuben geistesabwesend. «Sag mal, haben wir eigentlich Vollmond?»
«Nein, weit davon entfernt. Warte mal.» Reuben hörte Celestes Computertasten klackern. «Ja, wir haben nicht mal Halbmond. Das kannst du also vergessen. Aber warum fragst du überhaupt? Die Entführer haben gerade eine Lösegeldforderung gestellt, und du faselst von dem Wolfsmenschen!»
«Sie haben mich auf die Geschichte angesetzt, obwohl ich es nicht wollte. Wie hoch ist denn die Lösegeldforderung?»
«Das ist ja wohl das Beleidigendste und Gedankenloseste, was ich je gehört habe», sagte Celeste wütend. «Du musst dich dagegen wehren, Reuben! Was soll das? Wegen der Sache, die dir im Norden passiert ist? Was denkt Billie sich bloß dabei? Die Entführer verlangen fünf Millionen Dollar und wollen die Kinder eins nach dem anderen umbringen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Du solltest dich auf dem Weg nach Marin County befinden! Das Lösegeld soll auf ein Konto auf den Bahamas überwiesen werden, aber man kann davon ausgehen, dass es auf diesem Konto nicht lange bleiben wird, sondern ganz schnell irgendwo im Äther des Cyber-Bankings verschwindet. Vielleicht kommt es bei der Bank gar nicht erst an. Es heißt, die Entführer seien Computercracks.»
Plötzlich stand Billie vor Reubens Schreibtisch.
«Was hast du aus ihr rausgeholt?»
Reuben legte auf. «’ne Menge. Wie sie die Sache sieht. Aber jetzt muss ich erst mal sehen, was die Kollegen darüber berichtet haben.»
«Dazu ist keine Zeit. Ich will deinen Exklusivbericht auf die Titelseite bringen. Dir ist doch klar, dass der
Chronicle
versuchen wird, dich abzuwerben, oder? Und ob du’s glaubst oder nicht: Channel Six will dich auch haben. Seit Mendocino liegen sie mir in den Ohren.»
«Das ist doch lächerlich.»
«Ist es nicht. Es liegt an deinem Aussehen. Das ist alles, was die Fernsehfritzen interessiert. Aussehen, Aussehen, Aussehen. Ich dagegen habe dich nicht wegen deines Aussehens eingestellt. Und ich sage dir eins, Reuben: Das Verkehrteste, was jemand in deinem Alter tun kann, ist, sich bei einem Nachrichtensender zu verschleißen. Also gib mir diese Geschichte, wie du sie siehst, mit deiner unverwechselbaren Stimme. Und tauch nicht wieder ab, so wie heute Vormittag!»
Damit war sie wieder draußen.
Reuben starrte eine Weile vor sich hin.
Okay, kein Vollmond. Was mit ihm passiert war, hatte also nichts mit dem Mond zu tun und konnte jederzeit wieder passieren. Vielleicht heute Nacht. So viel zu den alten Legenden. Und warum saß er hier untätig herum, während er eigentlich alles zusammentragen sollte, was es über «die Bestie» in Erfahrung zu bringen gab?
Plötzlich musste er daran denken, wie er über die Dächer gerannt war, getrieben von der unglaublichen Kraft, die seine Beine nun hatten. Er hatte zum Himmel aufgeschaut und den Mond hinter Wolken gesehen, die wahrscheinlich von keinem menschlichen Auge durchdrungen werden konnten.
Würde es wieder geschehen, sobald es dunkel wurde?
Es war wunderschön gewesen, der Mond zwischen Millionen Sternen. Er spürte dem Gefühl nach, wie schön es war, mit ausgestreckten Armen ganze Straßenzüge in Windeseile hinter sich zu lassen und mühelos auf Dachschrägen zu landen. Der Rausch der Geschwindigkeit. Und dann der ernüchternde, beängstigende Gedanke:
Wird das jetzt jede Nacht so sein?
Althea brachte ihm einen frischen Kaffee, lächelte und winkte im Hinausgehen.
Reuben starrte auf die Kollegen, die zwischen dünnen weiß gestrichenen Trennwänden hin und her gingen. Einige sahen in seine Richtung, manche nickten ihm zu, andere gingen schweigend vorbei, ganz in ihre eigenen Gedanken versunken. Dann sah er auf die Fernseher hinten an der Wand. Sie zeigten Bilder des leeren Schulbusses und der Goldenwood Academy. Eine weinende Frau. Wieder Lon Chaney junior in seiner Rolle als Werwolf, wie er durch die nebligen Wälder Englands hastet, die Wolfsohren lauschend aufgestellt.
Er drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl, griff zum Telefon und wählte die Nummer der Gerichtsmedizin. Ja, er würde in der Leitung bleiben und warten.
Ich will das alles nicht
, dachte er.
Ich kann nicht. Es ist alles zu viel. Ich kriege alles durcheinander. Nein, ich kann nicht. Es tut mir leid für Miss Larson. Sie hat viel durchgemacht, und jetzt glaubt man ihr noch nicht einmal. Aber, verdammt
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