Das Geschenk der Wölfe
Stromausfalls in Berkeley hatte er
Finnegans Wake
bei Kerzenlicht zu Ende gelesen. Manchmal musste man zu seinem Glück gezwungen werden.
Er nahm Felix’ Regale in Augenschein. Was sich in diesem Zimmer befand, mussten die Dinge sein, die ihm am meisten bedeutet hatten. Doch wo sollte er anfangen? Was sollte er sich als Erstes ansehen?
Fehlte da nicht etwas?
Nein, dachte er. Ich muss mich wohl irren. Meine Erinnerung täuscht mich. Er musterte die Regale im Schnelldurchlauf, und ihm wurde klar, dass er sich keineswegs geirrt hatte.
Die Tafeln, die kleinen mesopotamischen Tontafeln, die unbezahlbaren Tafeln mit babylonischer Keilschrift waren verschwunden. Und zwar alle.
Er ging in die Diele hinunter, um in den Abstellkammern danach zu suchen. Aber dort waren sie auch nicht.
Danach stieg er noch einmal auf den Dachboden und suchte in allen Räumen. Überall das Gleiche. Jede Menge Schätze, aber keine Tontafeln.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Staub – oder besser: die Abwesenheit von Staub – verriet, wo bis vor kurzem etwas gestanden hatte.
Überall fand er solche Stellen, wo die kleinen Tontafeln gelegen hatten. Jemand musste sie sorgsam eingesammelt und entfernt haben.
Er kehrte in das Zimmer zurück, das ihm am vertrautesten war, und sah dort noch einmal nach, aber die Tontafeln waren und blieben verschwunden. Neben den staubfreien Stellen waren hier und da Fingerabdrücke zu sehen.
Panik überfiel ihn.
Jemand war in das Haus eingedrungen und hatte das Wertvollste aus Felix’ Sammlung gestohlen! Seine bedeutendsten Fundstücke aus Vorderasien! Jemand hatte den Schatz geplündert, den Marchent so sorgsam gehütet hatte und nur in würdige Hände übergeben wollte! Jemand hatte …
Aber das war doch lächerlich!
Wer hätte so etwas tun sollen? Wer hätte die Tontafeln stehlen und alles andere unangetastet lassen sollen? Die Edelsteinfiguren mussten ein Vermögen wert sein, genau wie die antiken Schriftrollen, die von unschätzbarem Wert für Wissenschaftler und Museen sein mussten. Wer hätte die Schachteln voller antiker Münzen stehen gelassen? Den mittelalterlichen Codex, den er soeben entdeckte, obwohl er ganz offen dalag? Davon gab es oben noch mehr. Ganz abgesehen von all den Büchern, die für Bibliotheken ein Vermögen wert waren.
Das alles ergab doch keinen Sinn! Wer wusste überhaupt, worum es sich bei den Tontafeln handelte? Einige sahen wie Dreck aus, wie abgebrochene Ziegelstücke oder vertrocknete Kekse.
Wer besaß das Wissen und die Geduld, die wertvollen Tafeln und Scherben sorgsam unter all den anderen Wertsachen herauszusuchen, ohne alles andere in Unordnung zu bringen, um dann ungesehen zu verschwinden?
Eine absurde Vorstellung! Trotzdem waren die Tontafeln verschwunden. Nicht die kleinste Scherbe war irgendwo zu entdecken.
Da Reuben sich nicht sicher sein konnte, ob nicht noch andere Dinge fehlten, nahm er die Regale näher in Augenschein. Da gab es Bücher aus dem siebzehnten Jahrhundert, mit dünnen Seiten, deren Bindung sich schon auflöste, obwohl sie sich noch umblättern und vor allem entziffern ließen. Die edlen Statuetten waren ganz bestimmt echt und alt. Wie so viele Stücke mussten sie ein Vermögen wert sein. In einem Regal fand er eine exquisite Halskette aus weichem, anschmiegsamem Gold, deren Glieder aus gravierten Blättern bestanden. Sie musste sehr alt sein. Er legte sie wieder genauso hin, wie er sie vorgefunden hatte.
Dann ging er in die Bibliothek hinunter und rief Simon Oliver an.
«Ich brauche ein paar Informationen», sagte er. «Wissen Sie, ob die Polizei bei der Mordermittlung wirklich alles im Haus fotografiert hat? Ich meine, sind auch die Zimmer fotografiert worden, die nicht direkt betroffen waren? Und können Sie mir die Polizeifotos besorgen?»
Simon sagte, er glaube nicht, dass das so einfach sein würde, aber die Anwälte der Nidecks hätten nach Marchents Tod das ganze Haus fotografiert.
«Marchent hatte auch jede Menge Fotos», sagte Reuben. «Können Sie mir die besorgen?»
«Keine Ahnung. Ich sehe mal, was ich tun kann. Aber die Nideck-Anwälte werden Ihnen bestimmt eine Inventarliste zur Verfügung stellen.»
«Je eher, desto besser», sagte Reuben. «Schicken Sie mir bitte alle Fotos, die Sie auftreiben können, per E-Mail.»
Als Nächstes rief er Galton an.
Der versicherte ihm, niemand außer ihm und seiner Familie habe das Haus betreten. Seine Frau und er seien in den letzten Tagen ständig ein und aus gegangen, und ja,
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