Das Geschenk der Wölfe
gefegt und gewischt worden, und doch hing noch ein feiner Duft in der Luft, der an Marchents Parfüm erinnerte.
Ein Schauder durchfuhr Reuben, eine Mischung aus Liebe und unsagbarem Schmerz. Er stand ganz still da und wartete darauf, dass das Gefühl verblasste.
Alles war so sauber, dass es steril wirkte. Marchents Computer stand an seinem Platz, aber Reuben hatte keine Ahnung, was er enthielt. Auch Drucker und Faxgerät waren einsatzbereit. Es gab sogar einen Kopierer. An der Wand hing ein Foto in einem Glasrahmen, das Reuben damals nicht bemerkt hatte – ein Porträt Felix Nidecks.
Es war eins von der Sorte, die den Betrachter anzusehen schienen, weil es ohne jeden Winkel frontal aufgenommen war. Auch hier musste es sich um die Aufnahme einer Planfilmkamera handeln, denn selbst die kleinsten Details waren gestochen scharf.
Felix hatte dunkles, welliges Haar. Sein Lächeln wirkte spontan und herzlich, und in seinem ausdrucksvollen Blick lag Wärme. Sein Jackett war aus verblichenem Baumwolldrillich, schien aber eigens für ihn angefertigt worden zu sein. Der oberste Knopf seines weißen Hemds stand offen. Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment etwas sagen.
In der unteren Bildecke stand mit schwarzer Tinte: «Liebste Marchent, vergiss mich nicht! In Liebe, Dein Onkel Felix, ’ 85 .»
Reuben ging aus dem Zimmer und schloss die Tür. Er hatte nicht erwartet, dass es so schmerzhaft sein würde.
«Kap Nideck», flüsterte er, wie um sich selbst Mut zu machen. «Ich bin für alles bereit, was du mir zu geben hast.»
Die Stelle im Hausflur, unweit der Küchentür, wo er beinahe ums Leben gekommen wäre, würdigte er keines Blickes.
Eins nach dem anderen
, dachte er.
Er blieb stehen und horchte, aber die Nacht war vollkommen still. Nach einer Weile hörte er das Meer in der Ferne an die Klippen schlagen. Die Wellen machten ein Getöse, als würden Kanonen abgefeuert. Trotzdem musste er sich anstrengen, um irgendetwas wahrzunehmen, das außerhalb des stillen, hell beleuchteten Hauses lag.
Er füllte sich etwas von dem Eintopf auf einen Teller, fand eine Besteckschublade und nahm sich eine Gabel. Dann ging er in den Frühstücksraum des Ostflügels und setzte sich an den Tisch am Fenster.
In der Ecke stand ein schwarzer Eisenofen, der zurzeit allerdings nicht beheizt war. An der hinteren Wand stand eine große bemalte Eichentruhe.
Rechts von der Truhe hing eine kunstvoll geschnitzte Kuckucksuhr, eine echte aus dem Schwarzwald. Reuben war sich sicher, dass sie Phil gefallen würde. Eine Zeitlang hatte er Kuckucksuhren gesammelt, und das andauernde Schlagen und Kuckuckrufen hatte alle anderen im Haus verrückt gemacht.
Der Schwarzwald. Reuben musste an die Geschichte vom Wolfsmenschen denken. Was war dieser Sperver für ein Mensch? Und was hatte er mit den Nidecks zu tun? Der Schwarzwald … Reuben beschloss, sich noch einmal das Bild in der Bibliothek anzusehen. Andererseits gab es da oben so viele Bilder, die er sich ansehen wollte.
Eins nach dem anderen.
Die östliche Hauswand bestand fast nur aus Fenstern.
Schon immer hatte er sich unwohl gefühlt, wenn er nachts vor nackten Fenstern saß, vor allem, wenn man in der Dunkelheit nichts erkennen konnte. Jetzt aber hatte er sich ganz bewusst hierher gesetzt. Falls es da draußen jemanden oder etwas gab, sollte er oder es ihn so klar und deutlich wie auf einer gut ausgeleuchteten Bühne sehen.
Wenn du da draußen bist, du mutierter Nachkomme der großen Nidecks, dann gib dich, verdammt noch eins, zu erkennen!
Er zweifelte nicht daran, dass er sich im Laufe der Nacht wieder verwandeln würde, genau wie die letzten beiden Nächte zuvor. Er wusste nur nicht, wann und warum. Er wünschte sich, dass es eher geschah als in den letzten Nächten. Er fragte sich, ob sich die Kreatur, die ihn von da draußen womöglich beobachtete, erst zu erkennen geben würde, wenn er sich verwandelt hatte.
Er probierte das Rindfleisch, die Karotten, die Kartoffeln und alles, was er mit der Gabel aufspießen konnte. Es war überraschend schmackhaft. Zum ersten Mal hatte er plötzlich wieder Appetit. Er hob den Teller an, um die Flüssigkeit zu trinken. Wirklich nett von Galtons Frau, ihm Essen zu besorgen.
Als er fertig war, legte er die Gabel zur Seite und nahm den Kopf zwischen die Hände, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. «Vergib mir, Marchent», flüsterte er. «Beinahe hätte ich vergessen, dass du hier gestorben bist.»
Er saß ganz still da, als
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