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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Russland. Reuben konnte gut genug Französisch, Spanisch, Italienisch und so weiter, um zu begreifen, dass die mysteriöse Kreatur, die Marchents Mörder gerächt hatte, überall Schlagzeilen gemacht hatte. Das Haus wurde ausführlich beschrieben, genau wie der Wald dahinter. Gemeinsam war allen Berichten der Nervenkitzel, den die rätselhafte Bestie auslöste.
    Ein Freund von Felix, der all das irgendwo auf der Welt las, würde den Ort des Geschehens anhand der Schilderungen und des Namens Nideck ohne weiteres als genau den identifizieren, an dem er, Reuben, sich in diesem Moment befand. Vielleicht würde sich ja tatsächlich jemand melden, der Felix gekannt hatte – mit oder ohne Tontafeln.
    Als Nächstes sah er nach, was es Neues über die Goldenwood-Entführung gab. Im Grunde nichts. Außer dass die Eltern die Geduld mit Sheriff und FBI verloren hatten und sie für den Tod des kleinen Mädchens verantwortlich machten. Susan Kirkland. So hieß das Mädchen. Acht Jahre alt. Ihr Gesicht lächelte Reuben in allen Farben entgegen – ein süßes Kind mit blondem Haar und pinkfarbenen Plastikhaarspangen.
    Reuben sah auf die Uhr. Schon acht.
    Sein Herz begann zu klopfen, aber das war auch alles. Er schloss die Augen und hörte nur die allgegenwärtigen Geräusche des Waldes und des strömenden Regens. Da draußen waren Tiere zu hören, die in der Dunkelheit umherstreiften. Sogar Vögel, noch so spät am Abend. Je mehr er auf diese Geräusche horchte, desto mehr schien er mit ihnen zu verschmelzen. Er musste sich gewaltsam wach rütteln.
    Irritiert stand er auf und zog die Samtvorhänge zu. Es wirbelte ein wenig Staub auf, der sich aber bald wieder setzte. Dann schaltete er die Lampen neben der Ledercouch und dem Ledersessel an und machte Feuer im Kamin, denn warum, zum Teufel, sollte er darauf verzichten?
    Anschließend ging er in die große Diele und entfachte auch da ein Feuer, ein etwas kleineres, und sicherte es mit einem Metallschild, das bei seinem ersten Besuch noch nicht da gewesen war.
    Dann ging er in die Küche. Der Kaffee war längst kalt geworden, aber man musste kein Genie sein, um sich einen neuen zu kochen.
    Kurz darauf trank er den frischen Kaffee aus einer von Marchents Porzellantassen und wanderte unruhig auf und ab. Das knisternde Kaminfeuer hatte eine beruhigende Wirkung, genau wie das Gurgeln in der Regenrinne und die prasselnden Geräusche vom Dach und den Fenstern.
    Er stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch, setzte sich an den Laptop und begann seine Gedanken in einer passwortgeschützten Datei niederzuschreiben, die außer ihm aber ohnehin kein Mensch verstehen konnte.
    Nach einer Weile stand er auf, ging zur Hintertür und starrte in die Dunkelheit. Die hellsten Lampen der Außenbeleuchtung hatte er ausgeschaltet, sodass er die Bäume in ihrer ganzen Pracht sehen konnte, dazu das von Efeu und Wein überwucherte Schieferdach des Dienstbotenflügels.
    Er schloss die Augen und versuchte, seine Verwandlung willentlich herbeizuführen. Er stellte sich alles genau vor und rief sich die erregenden Gefühle in Erinnerung, die der Vorgang in ihm auslöste. Er versuchte, an nichts anderes zu denken.
    Aber er konnte es nicht erzwingen.
    Stattdessen machte sich wieder ein Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit in ihm breit, und ihm wurde bewusst, in welcher Abgeschiedenheit er sich befand.
    «Worauf hoffst du? Wovon träumst du?», murmelte er.
    Dass alles miteinander zusammenhing – die Kreatur, die ihn verändert hatte, der Name Nideck, selbst das Verschwinden der Tontafeln. Die Tontafeln mussten ein Geheimnis bergen, das mit den anderen Geheimnissen dieses Hauses zusammenhing.
    Unsinn! Was hatte Phil über das Böse gesagt? «Alles Humbug! Es sind Menschen, die Dörfer überfallen und deren Einwohner töten. Es sind Menschen, die in unbändiger Wut Kinder töten. Das Böse an sich gibt es nicht. Es sind Fehler, Ausrutscher, Momente der Unbesonnenheit. Alles Schlechte, was passiert, ist lediglich das Resultat eines Fehlers.»
    Vielleicht hatte auch er Fehler gemacht, und er konnte sich glücklich schätzen, dass die Menschen, die er so unbesonnen getötet hatte, in den Augen der Öffentlichkeit «Schuldige» waren.
    Was aber, wenn der Biss einer bösartigen Bestie ihn verändert hatte? Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Wie viele Menschen waren schon von wilden Tieren gebissen worden? Millionen! Und keiner von ihnen war dadurch selbst zur Bestie geworden.
    Um neun erwachte er in dem

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