Das Geschenk der Wölfe
Sperver, Baron Thibault, Reynolds Wagner, Felix Nideck, Sergej Gorlagon und Frank Vandover.
Er tippte die Namen in sein iPhone und schickte sie als E-Mail an sich selbst.
Diese ausdrucksvollen, fröhlichen Gesichter! Wie Marchent gesagt hatte, war Sergej ein wahrer Hüne. Mit seinem hellblonden Haar, den buschigen blonden Augenbrauen und dem kantigen Gesicht sah er durch und durch nordisch aus. Die anderen waren nicht viel kleiner als er, unterschieden sich sonst aber deutlich von ihm. Felix und Margon waren so dunkelhäutig, als flösse in ihren Adern asiatisches oder südamerikanisches Blut.
Warum waren alle so ausgesprochen fröhlich? Hatte jemand einen Witz gemacht? Oder sprach ganz einfach die spontane Freude über ein großes gemeinsames Abenteuer aus ihren Gesichtern?
Sperver und Nideck. Vielleicht waren die Namen nur Zufall, nicht mehr. Die anderen Namen sagten Reuben nichts.
Aber er würde sie jetzt immer um sich haben. Wenn er wollte, könnte er sich den ganzen Abend damit beschäftigen, genau wie morgen, übermorgen und am Tag danach.
Er ging ins Obergeschoss.
Auch hier erwartete ihn etwas Aufregendes. Er öffnete die Türen, die an seinem ersten Abend verschlossen waren.
«Alles bloß Abstellkammern», hatte Galton beiläufig gesagt.
Der Anblick der vollgestopften Regale machte Reuben nahezu euphorisch. Zahllose Jade-, Quarz- und Alabasterfiguren, Bücher aller Art und Gegenstände, die er auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte.
Dann ging er im vorderen Teil des Hauses die schlichte Holztreppe zum Dachboden hinauf. Kaum hatte er einen Lichtschalter ertastet, fand er sich in einem erstaunlich großen Raum mit der Dachschräge des südwestlichen Giebels wieder. Mehrere Holztische waren mit Büchern, Papieren, noch mehr Statuetten, allerlei Kuriositäten, Schachteln voller dicht beschriebener Karteikarten, unbenutzten Notizbüchern, Kontenlisten und Briefen übersät.
Reuben befand sich genau über Felix’ Schlafzimmer, in dem Raum, zu dem Felix den direkten Zugang hatte entfernen lassen. Auf dem Fußboden war deutlich die Stelle zu erkennen, wo einst die Eisentreppe endete.
In der Mitte des Raums standen bequeme Sessel unter einem alten gusseisernen Kronleuchter.
Auf der Armlehne eines Sessels lag ein verstaubtes Taschenbuch. Reuben hob es auf.
PIERRE TEILHARD DE CHARDIN
Woran ich glaube
Das war merkwürdig. Sollte Felix tatsächlich Teilhard de Chardin gelesen haben, einen der scharfsinnigsten katholischen Theologen?
Reuben hatte kein besonderes Interesse an abstrakter Philosophie oder Theologie, genauso wenig wie an Naturwissenschaften, aber er schätzte die Poesie, die in Teilhards Schriften steckte. So ging es auch seinem Bruder Jim. Reuben fand es ermutigend, dass Teilhard nicht nur an Gott, sondern auch an die Welt glaubte, wie er es gern ausdrückte.
Er schlug das Buch auf, eine Ausgabe von 1969 . Das Papier war schon ganz spröde.
Ich glaube, das Universum ist ein einziger Evolutionsprozess.
Ich glaube, diese Evolution zielt auf Spiritualität.
Ich glaube, Spiritualität manifestiert sich in Persönlichkeiten.
Ich glaube, die vollendete Persönlichkeit ist ein universeller Christus.
Bingo, dachte Reuben verbittert, voll ins Schwarze getroffen, Teilhard. Plötzlich überkam ihn eine tiefe Traurigkeit, die in Wut und dann Verzweiflung überging. Normalerweise neigte er nicht zum Verzweifeln, aber in Momenten wie diesem hatte er gelegentlich solche Anflüge. Er wollte das Buch schon wieder beiseitelegen, als sein Blick auf eine handschriftliche Widmung fiel:
Liebster Felix,
das ist für Dich!
Nachdem wir das überlebt haben,
kann uns nichts mehr passieren.
Ein Grund zur Freude,
Margon
Rom ’ 04
Auch das gehörte jetzt Reuben.
Er steckte das Buch in seine Manteltasche.
Im hinteren Teil des Raums lag die ausgebaute Eisentreppe im Staub. Daneben standen Kisten und Schachteln, deren Inhalt er jetzt nicht erforschen wollte.
Eine Stunde lang wanderte er weiter durchs Haus und fand im Dachgeschoss zwei weitere ähnliche Zimmer. Ein drittes war vollkommen leergeräumt. Alle waren über Treppen zu erreichen, die hinter Wandverkleidungen der Diele lagen.
Zuletzt ging er in Felix’ ehemaliges Zimmer, in dem er heute Nacht schlafen wollte. Als ihm bewusst wurde, dass er von den Fernsehnachrichten abgeschnitten war, die sein ständiger Begleiter waren, wurde er beinahe panisch. Immerhin hatte er seinen Computer. Vielleicht war es sogar besser so.
Während eines
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