Das Geschenk der Wölfe
anders.
Er zog sich aus, hängte sein Zeug ordentlich in den Kleiderschrank und zog die legeren Sachen an, die er in Santa Rosa gekauft hatte.
In dem riesigen Kapuzenshirt und der überdimensionierten Jogginghose versank er regelrecht, aber das machte nichts. Der braune Trenchcoat war so groß, dass er ihn lieber nicht anzog, aber er würde ihn mitnehmen.
Er zog die Schuhe aus und stieg in die riesigen Gummistiefel. Dann band er sich einen der neuen Schals um, stopfte ihn ins Sweatshirt und steckte die Sonnenbrille zusammen mit seinem Telefon, seinem Portemonnaie und seinen Schlüsseln in eine Manteltasche. Zum Schluss nahm er Fausthandschuhe und Laptop und ging nach draußen.
Beinahe hätte er vergessen, die Alarmanlage einzuschalten, aber dann tippte er den Code ein.
Alle Lichter brannten noch.
Als er ein kleines Stück gefahren war, schaute er in den Rückspiegel und sah die erleuchteten Fenster in allen drei Etagen. Der Anblick gefiel ihm. Das Haus sah belebt, sicher und solide aus.
Es war einfach wunderbar, dieses Haus zu besitzen und dem dichten, dunklen Wald, dem großen Mysterium nah zu sein. Auch beim Fahren hatte er das Bedürfnis, die Füße zu bewegen. Er streckte die Finger und schloss sie dann fest um das lederbezogene Lenkrad.
Der Regen stürzte an der Windschutzscheibe des Porsches herab, aber Reuben konnte trotzdem gut sehen. Die Scheinwerfer beleuchteten die unebene, holprige Straße vor ihm. Ohne es recht zu merken, begann er plötzlich zu singen, und er fuhr so schnell, wie die Straßenverhältnisse es zuließen.
Denk nach! Denk wie ein Kidnapper, der zweiundvierzig Kinder verstecken muss! Denk wie ein gewissenloses technisches Genie, das ein kleines Mädchen erschlagen und dann im Regen an einem einsamen Strandabschnitt aus dem Wagen werfen kann, um dann irgendwo hinzufahren, wo es warm und trocken ist und ein Computer steht, mit dem man in aller Ruhe sein Onlinebanking machen und E-Mails checken kann.
Wahrscheinlich befanden sich die Kinder ganz woanders, als alle dachten.
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10
R euben kannte sich im Hinterland von Marin County genauso gut aus wie in den Straßen von San Francisco. Als Kind und Jugendlicher hatte er oft Freunde in Sausalito und Mill Valley besucht und die obligatorischen Wanderungen auf den Mount Tamalpais und durch die atemberaubenden Muir Woods gemacht.
Deswegen hatte er es eigentlich nicht nötig, das Büro des Sheriffs aufzusuchen, bevor er sich an die Verfolgung machte, aber er tat es trotzdem, denn sein Gehör war schärfer denn je, und er hoffte, Stimmen zu hören, ohne selbst gesehen zu werden.
Er parkte nahe dem Gemeindezentrum von San Rafael und nahm seinen Beobachtungsposten zwischen den Bäumen ein, weit entfernt vom Stimmengewirr der Reporter, die das Büro des Sheriffs belagerten.
Er schloss die Augen und versuchte sich auf die Stimmen im Büro zu konzentrieren. Es musste Schlüsselworte geben, denen er Informationen entnehmen konnte. Binnen Sekunden empfing er die ersten Signale. Ja, die Kidnapper hatten sich wieder gemeldet, aber das wollte man der Öffentlichkeit noch nicht mitteilen. «Wir geben nur raus, was der Sache dient», sagte ein Mann im Befehlston. «Und das hier dient der Sache nicht.» – «Sie drohen damit, noch ein Kind zu töten.»
Mehrere Leute redeten durcheinander, und es klang nach Protest. Argument – Gegenargument. Die Bank auf den Bahamas zeigte sich wenig kooperativ, und die eigenen Hacker waren bis jetzt nicht weit genug gekommen, um den Weg des Lösegelds zuverlässig verfolgen zu können.
Trotz Regen und Brandung hatte die Leiche des kleinen Mädchens Bodenspuren an Schuhen und Kleidung aufgewiesen, die aus Marin County stammen mussten. Natürlich war daraus noch nichts Endgültiges zu schließen, aber das Fehlen anderer Bodenproben war ein gutes Zeichen, und es erhärtete Reubens Verdacht.
Im Schritttempo patrouillierten Streifenwagen auf den bewaldeten Hügeln. Hier und da wurden Verkehrskontrollen durchgeführt, und einzelne Teams gingen von Tür zu Tür, um die Anwohner zu befragen und Häuser zu durchsuchen. Also musste er achtgeben, den Gesetzeshütern nicht in die Quere zu kommen.
Er wollte gerade zu seinem Wagen zurückgehen, als ihn etwas übermannte. Es war ein Geruch – der Geruch des Bösen, den er schon in den vorigen Nächten wahrgenommen hatte.
Irritiert setzte er seinen Weg fort. Gerade jetzt wollte er sich von nichts und niemandem von der Entführung ablenken lassen. Dann
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