Das Geschenk der Wölfe
ich hätte einen Namen», sagte er. «Ich würde ihn dir gern nennen.»
Dann verließ er das Haus ohne ein weiteres Wort.
Für den Rückweg durch die Muir Woods schwang er sich wieder in die Baumwipfel und betrat erst den Erdboden, als er in die Nähe von Mill Valley kam.
Ohne darüber nachzudenken, wo genau er hin musste, fand er seinen Porsche wieder. Er hatte ihn so gut zwischen den Buscheichen versteckt, dass ihm nichts geschehen war.
Der Regen hatte nachgelassen, es nieselte nur noch.
Stimmen raunten und zwitscherten im schattigen Gebüsch.
Unten im Tal hörte er den Funkverkehr der Polizei, die noch mit der Untersuchung des Tatorts beschäftigt war.
Er setzte sich neben dem Porsche auf den Boden und versuchte, die Rückverwandlung willentlich herbeizuführen.
Sie begann nach wenigen Sekunden. Der Wolfspelz zog sich zurück, und wieder durchfuhren ihn Wellen der Lust.
Der Himmel wurde langsam hell.
Reuben wurde immer schwächer, bis er einer Ohnmacht nahe war.
Langsam zog er sich die legeren Sachen wieder an, alles, was er mitgebracht hatte. Doch wo sollte er jetzt hin? Bis Kap Nideck würde er es nicht schaffen. Außerdem war es kein guter Zeitpunkt, um nach Hause zu fahren.
Er zwang sich, erst einmal zur Straße zurückzufahren, obwohl er kaum noch die Augen offen halten konnte. Wahrscheinlich hatten sich Dutzende Reporter im Mill Valley Inn und den anderen Motels der Umgebung eingemietet. Er fuhr Richtung Süden, auf die Golden Gate Bridge zu. Es war schwer, sich wach zu halten, während die Sonne langsam mit stählernem, herzlosem Licht durch den Nebel drang.
Als er die Stadt erreichte, nahm der Regen wieder zu.
An einem großen Motel in der Lombard Street hielt er an und nahm sich ein Zimmer. Die Balkone in der obersten Etage hatten ihn angelockt. Über ihnen lag nur noch der Himmel. Er nahm eine kleine Suite «ohne Verkehrslärm» an der Rückseite des Gebäudes, zog die Vorhänge zu und streifte die viel zu großen Sachen ab. Das Kingsizebett kam ihm wie ein lebensrettendes Floß vor. In den kühlen weißen Kissen schlief er sofort ein.
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13
P ater Jim schloss seine Kirche, St. Francis at Gubbio im Stadtteil Tenderloin, sobald es dunkel wurde. Tagsüber schliefen die Obdachlosen auf den Kirchenbänken und bekamen ein Stück weiter die Straße runter ein warmes Mittagessen, doch abends wurde die Kirche aus Sicherheitsgründen geschlossen.
Das wusste Reuben.
Er wusste auch, dass sein Bruder abends um zehn – also jetzt – in seiner kleinen spartanischen Wohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus gegenüber dem Friedhof tief und fest schlief.
In den ersten Jahren nach Dienstantritt hatte Jim im alten Pfarrhaus gewohnt, aber jetzt waren dort Gemeindebüros und Lagerräume untergebracht. Mit Zustimmung des Erzbischofs hatten Grace und Phil die kleine Wohnung gekauft, kurz darauf dann das ganze Gebäude, und Jim hatte daraus nach und nach eine mehr oder weniger respektable Bleibe für die zuverlässigeren Bewohner der Gegend gemacht.
Reuben trug seinen braunen Trenchcoat und ein Kapuzenshirt, seine Pfoten und Klauen waren unbeschuht. So war er über die Dächer zur Kirche gelangt. Dann ließ er sich in den kleinen dunklen Friedhof hinunter. Drei Stunden zuvor hatte er sich verwandelt. Seitdem versuchte er, die Stimmen zu ignorieren, die von allen Seiten nach ihm riefen. Er konnte nicht mehr kämpfen.
Er rief seinen Bruder mit dem Handy an. Inzwischen konnte er seine Pfoten geschickter benutzen, sodass ihm die Bedienung keine Schwierigkeiten mehr machte.
«Ich möchte eine Beichte ablegen, in der Kirche», sagte er. Seine tiefe, kehlige Stimme war ihm selbst inzwischen vertraut, aber er wusste, dass Jim sie nicht erkannte. «Im Beichtstuhl. Bitte!»
«Und es muss jetzt sein?», fragte Jim ganz verschlafen.
«Ich kann nicht länger warten. Ich brauche einen Priester. Und Gott. Sie werden es verstehen, wenn Sie mich angehört haben.»
Jedenfalls hoffte Reuben das.
Reuben band sich den Schal vor den Mund und rückte die Sonnenbrille zurecht, als er vor der Kirche wartete.
Jim, ganz der pflichtbewusste Priester, beeilte sich und staunte, als er sah, dass der reuige Sünder schon längst auf ihn wartete. Auch die Größe des Mannes überraschte ihn. Aber er ließ sich nichts anmerken, nickte nur und schloss das schwere Kirchenportal auf.
Reuben fand ihn ziemlich mutig. Immerhin könnte er fürchten, dass der große, kräftige Fremde ihm eins über den Kopf zog
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