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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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völlig entgeistert vor sich hin zu starren.
    Reuben fuhr fort: «Jeden Abend verwandle ich mich, und jeden Abend geht meine Verwandlung eher los. Heute schon um sieben. Ich weiß nicht, ob ich lernen kann, das zu verhindern oder es willentlich herbeizuführen. Ich weiß auch nicht, warum ich mich im Morgengrauen immer in meine menschliche Gestalt zurückverwandle. Ich weiß nur, dass ich dann vor Erschöpfung halbtot bin.
    Du fragst dich, wie ich meine Opfer finde? Ich höre die Hilferufe und spüre die Furcht der unschuldigen Menschen. Und ich rieche das Böse der Angreifer. Ich rieche es, wie ein Hund oder ein Wolf seine Beute riecht.
    Den Rest kennst du. Du hast es ja in der Zeitung gelesen und in den Nachrichten gehört. Mehr kann ich dir nicht sagen.»
    Schweigen.
    Reuben wartete.
    In der engen Kabine war ihm unerträglich warm. Aber er wartete.
    Schließlich begann Jim zu sprechen. Seine Stimme war so heiser und leise, dass Reuben ihn kaum verstehen konnte.
    «Wenn du mein kleiner Bruder bist, musst du Dinge wissen, die nur er wissen kann. Sag etwas, das mir beweist, wer du wirklich bist.»
    «Herrgott, Jimmy, ich bin’s», sagte Reuben. «Mom weiß nichts davon, Phil auch nicht. Auch Celeste hat keine Ahnung. Niemand weiß es, Jim, niemand außer einer Frau – und die weiß nicht, wer ich wirklich bin. Sie kennt mich nur als Wolfsmensch. Falls sie die Polizei, das FBI , die Gesundheitsbehörde oder die CIA verständigt hat, ist es zumindest nicht publik gemacht worden. Ich sage es dir, Jim, weil ich dich brauche. Du musst Bescheid wissen. Ich bin mit dieser Sache ganz allein, Jim. Völlig allein. Glaub mir, ich bin wirklich dein Bruder. Immer noch. Und jetzt sprich bitte mit mir!»
    Reuben sah, wie Jim die Hand vors Gesicht hielt und sich räusperte.
    «Okay», sagte er schließlich und lehnte sich zurück. «Gib mir eine Minute, Reuben. Du weißt ja, dass man Priester mit der Beichte nicht schockieren kann. Aber ich glaube, das gilt nicht, wenn der Bußwillige ein …»
    «Ein Tier ist», sagte Reuben. «Ich bin ein Werwolf, Jim. Allerdings würde ich mich lieber als Wolfsmensch bezeichnen. Auch wenn ich mich verwandelt habe, bleibt mein menschliches Bewusstsein intakt. Das merkst du ja gerade selbst. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn ich verwandelt bin, werden Hormone oder so etwas in mir aktiv, die mich emotional verändern. Auch dann bin ich Reuben, aber ein Reuben, der merkwürdigen Einflüssen unterliegt. Kein Mensch weiß, in welchem Maße Hormone und Gefühle den freien Willen beeinflussen, wie sie das Gewissen, Hemmschwellen und die Moral verändern.»
    «Das stimmt. Und es stimmt auch, dass niemand anders das so ausdrücken würde wie mein kleiner Bruder Reuben.»
    «Phil Golding hat seine Söhne nicht umsonst dazu erzogen, über ethische Fragen nachzudenken.»
    Jim lachte. «Und wo ist Phil jetzt, da ich ihn brauche?»
    «Lass ihn außen vor, Jim. Das hier muss unter uns bleiben.»
    «Ist ja schon gut.»
    Reuben zögerte, ehe er sagte: «Es ist ganz einfach, Menschen zu töten, die nach Schuld riechen. Nein, das stimmt so nicht. Sie riechen nicht nach Schuld. Sie riechen nach der Absicht, Böses zu tun.»
    «Und wie ist es mit anderen, mit unschuldigen Menschen?»
    «Die riechen einfach nur nach Mensch. Unschuldig, gesund, gut. Wahrscheinlich hat mich die Kreatur in Mendocino deswegen leben lassen. Ich habe sie überrascht, als sie gerade die beiden Mörder angriff. Auf mich hatte sie es nie abgesehen, ich habe sie lediglich gestört. Aber als sie von mir abließ, wusste sie vielleicht sogar, was sie mit mir getan hatte, dass sie mich sozusagen infiziert hatte.»
    «Aber du weißt nicht, wer oder was es war?»
    «Nein, noch nicht. Aber ich werde es herausfinden, wenn es irgend möglich ist. Es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Es betrifft das Haus und die ganze Familiengeschichte. Aber noch kann ich das Ganze nicht durchblicken.»
    «Und heute? Hast du heute jemanden getötet?»
    «Nein, hab ich nicht. Aber die Nacht ist noch jung, Jim.»
    «Die ganze Stadt ist auf der Suche nach dir. Sie haben noch mehr Kameras an den Verkehrsampeln installiert. Spezialeinheiten bewachen die Hausdächer. Außerdem gibt es jetzt die Möglichkeit, die Hausdächer via Satellit zu überwachen. Man weiß, dass du dich über die Dächer der Stadt bewegst. Sie werden dich kriegen, Reuben! Und dann werden sie auf dich schießen. Man wird dich töten, Reuben!»
    «So einfach

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