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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Celestes «Sonnyboy», Jims «Kleinen» und Phils Sohn. Warum sollte sich Laura für diesen nichtssagenden jungen Mann interessieren? Allein der Gedanke war absurd. Schließlich hatte sich auch Marchent Nideck nicht wirklich für ihn interessiert. Sie fand ihn süß und nett und schätzte seine poetische Ader, aber vor allem sah sie in ihm einen reichen Erben, der ein geeigneter Käufer für Kap Nideck war. Das hatte aber nichts mit echtem Interesse zu tun, und Liebe war es schon gar nicht.
    Bei Laura aber ging es um Liebe.
    Er schloss die Augen und horchte auf ihren rhythmischen Atem. Sie war eingeschlafen.
    Hinter den Fenstern murmelte der Wald. Reuben konnte einen Luchs riechen. Es machte ihn ganz unruhig. Er wollte ihn verfolgen, stellen, töten und sich dann an ihm weiden. Es war, als hätte er den Geschmack schon auf der Zunge. Ihm lief die Spucke im Maul zusammen. Auch die Bäche, die sich durch die Redwoodbäume schlängelten, murmelten. Eulen riefen in den Baumwipfeln. Allerlei kleines Getier huschte durchs Unterholz.
    Reuben fragte sich, was Laura wohl von ihm hielte, wenn sie sah, wie er sich im Wald verhielt, wie er den kämpfenden, fauchenden Luchs tötete und sein noch warmes Fleisch verschlang. Das war das Beste an diesen Fressorgien: das frische Fleisch. Das Blut pulsierte noch, das Herz seiner Beute schlug noch. Was würde Laura denken, wenn sie all das wüsste?
    Sie hatte ja keine Ahnung, wie es war, einem Mann den Arm auszureißen, geschweige denn den Kopf. Wie jeder Mensch blendete sie das Grauen aus, von dem sie tagtäglich umgeben war. Egal was sie schon alles erlitten hatte, war sie doch nie Augenzeugin eines gewaltsamen Todes gewesen. Nein, was er mit seinen Opfern anstellte, war selbst für jemanden mit der Lebensgeschichte von Laura etwas Unvorstellbares.
    Nur wer Tag für Tag mit den Mördern dieser Welt zu tun hatte, wusste, wie sie wirklich waren. Als Reporter hatte er nicht lange gebraucht, um das zu begreifen. Die Polizisten, die er interviewt hatte, wussten es auch. Und Celeste, die sich verändert hatte, seit sie bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Auch Grace war, wie sie war, weil sie die Opfer sah, die mit Messern im Bauch und Kugeln im Kopf in die Notaufnahme geschoben wurden.
    Doch Polizisten, Anwälte und Ärzte kamen mit tödlicher Gewalt erst im Nachhinein in Berührung. Sie waren nicht dabei, wenn der Mörder sein Opfer malträtierte. Sie konnten das Böse nicht riechen. Sie konnten die verzweifelten Hilfeschreie nicht hören.
    Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn. Er begehrte Laura so sehr. Aber welches Recht hatte er, ihr diese furchtbaren Dinge zu erzählen? Durfte er ihr «Geschichten» erzählen, die alles plausibel und vernünftig klingen ließen, was vielleicht gar nicht plausibel und vernünftig war, sondern brutal und primitiv und finster?
    Wenigstens diese Augenblicke mit ihr will ich genießen, dachte er. Hier am Kamin, in dem kleinen Haus, in dem alles schön und einfach ist. Wenigstens das hier soll schön und unbelastet sein.
    Er schlummerte ein und spürte nur noch ihren Herzschlag.
    Eine Stunde oder mehr verging.
    Dann schlug er die Augen auf. Der Wald lag ganz still da.
    Trotzdem stimmte da draußen etwas nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Eine Stimme durchdrang die Stille, eine dünne, schrille, verzweifelte Stimme.
    Es war ein Mann. Er schrie um Hilfe. Weit hinter dem Wald. Reuben kannte die Richtung. Er wusste auch, dass der Geruch ihn leiten würde.
    Er trug Laura ins Schlafzimmer und legte sie sanft aufs Bett. Trotzdem schreckte sie auf, kam hoch und stützte sich auf die Ellenbogen.
    «Du gehst?»
    «Ich muss. Ich werde gerufen.»
    «Man wird dich fangen. Sie sind überall.» Laura begann zu weinen. «Hör auf mich!», flehte sie. «Du musst in den Norden zurück, in die Wälder, weit weg von hier!»
    Er beugte sich über sie und küsste sie. Dann wandte er sich zum Gehen. «Ich komme bald wieder.»
    Sie folgte ihm, aber in Sekundenschnelle war er auf der Lichtung, sprang auf einen Baum und machte sich in den Wipfeln der Redwoodbäume auf den Weg zur Küste.
    Stunden später stand er in einem Wäldchen und blickte auf den gigantischen Pazifik. Kalt lag er unter einem tiefen silbrigen Himmel. Der Mond hinter den Regenwolken schien nur auf einen Teil des unruhigen Wassers. Reuben wünschte, der Mond teilte sein Geheimnis und wüsste die Wahrheit über ihn. Aber der Mond war nur der Mond.
    Er verfolgte den Wagen, in dem der Mann gefangen gehalten wurde,

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