Das Geschenk des Osiris
und alle Zeichen seiner hohen priesterlichen Würde abgelegt, sodass er wie ein gewöhnlicher Wab-Priester aussah. Er hatte sich mit ihr kurz unterhalten und dabei festgestellt, dass sie freundlich und ihm gegenüber ehrerbietig war, wobei ihm nicht entging, dass sie zwischen den priesterlichen Rängen Unterschiede vornahm. Sie verneigte sich vor ihm, aber nur flüchtig, trotzdem ließ sie es an Respekt gegenüber seinem Alter nicht mangeln, und das gefiel Nesamun.
Bei ihrem ersten Zusammentreffen war ihm aufgefallen, dass sie ihn seltsam gemustert hatte. Amunhotep ähnelte ihm sehr; dennoch schien Satra seine verwandtschaftlichen Beziehungen zu ihm nicht erkannt zu haben. Nesamun hatte sie beiläufig gefragt, was sie für eine Tätowierung an ihrem linken Oberarm trage, aber sie hatte nur abgewinkt und nichts gesagt. Zaghaft hatte sie ihn gefragt, ob er wüsste, wie es dem Oberpriester in Abydos ginge und ob er noch am Leben sei, und er hatte getan, als ob er darüber nicht unterrichtet sei. Betrübt hatte sie daraufhin ihren Blick zu Boden gesenkt, und Nesamun war klar geworden, dass diese Frau ihren Sohn nicht niedergeschlagen hatte. Sie hatte ihm leidgetan, und so versprach er, sich über Amunhoteps Befinden zu informieren. Als er sie das nächste Mal traf, hatte er ihr erzählt, dass Amunhotep noch am Leben, aber sehr schwer verwundet sei. Seitdem hatte er Satra nicht mehr zu Gesicht bekommen.
O Gott, dachte Satra verstört, als sie von einem Wab-Priester vor die beiden Männern geführt wurde und Nesamun erblickte. Das kann doch nicht sein! Ich dachte, er sei ein gewöhnlicher Priester. Er stützt sich auf den Amtsstab eines Propheten!
Ihr wurde schwindlig. Wo hatte sie bloß ihre Menschenkenntnis gelassen?
Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den jüngeren Mann.
Er war etwas kleiner als der ältere und ziemlich hager. Er trug edles gefälteltes Leinen und funkelnden Schmuck, hatte auf dem Kopf ein blau-weiß gestreiftes Nemes-Tuch, und an seiner Stirn blitzten sie die Augen einer goldenen Uräusschlange an.
»Mein Gott«, flüsterte Satra bestürzt, »das ist der Pharao.«
Ihre Knie gaben nach, und sie sank auf den Fußboden und berührte mit der Stirn die warmen Fliesen.
Ramses betrachtete sie stumm. Als er sie zum letzten Mal gesehen hatte, war sie fast nackt gewesen, zudem verschmutzt. Ihre Haare waren ein Tummelplatz für Läuse gewesen. Was er nun jedoch sah, war eine junge, hochgewachsene Dienerin, der man den Kopf kahl geschoren hatte. Sie war zwar noch immer recht mager, wirkte aber in ihrem derben Leinenhemd und dem Lendentuch, das sie sich um die Hüften gebunden hatte, attraktiv und anziehend.
Sein Blick fiel auf ihren linken Arm, an dem sie den kupfernen Reif einer zu Strafarbeit verurteilten Leibeigenen trug. Darüber erblickte er die dunkelblaue Zeichnung, die dieser Frau vom Großen Gott Osiris gegeben worden war.
Ja, dachte Ramses, jetzt kann ich sehen, dass du ein Geschenk des Osiris bist.
Wortlos drehte er sich um und verließ, gefolgt von Nesamun, den Raum. Ihr Schwur interessierte ihn nicht mehr. Was er gesehen hatte, reichte ihm.
* * *
Die Verhandlung fand unter Ausschluss der Öffentlichkeit im Vorhof des Tempels von Opet-sut statt. Der Wesir persönlich führte den Vorsitz. Ihm zur Seite saßen die vier Propheten des Amun sowie zwei Priesterinnen der Göttin Mut.
Nehi begann in gewohnter Weise den Prozess, indem er die Männer und Frauen vorstellte, die über Schuld oder Unschuld der Angeklagten befinden sollten.
»Hast du gegen einen oder eine der hier versammelten Männer und Frauen etwas einzuwenden?«, fragte er Satra, und sie verneinte, obwohl ihr bewusst war, dass es sich ausschließlich um hohe priesterliche Würdenträger handelte, von denen sie nicht viel Verständnis erwarten durfte. Immerhin ging es um ein Verbrechen an einem ihrer Amtskollegen. »Nenne mir deinen Namen.«
»Mein Name ist Sarah, Hoher Herr, aber man nennt mich Satra, seitdem ich in Kemi bin.«
»Dann werde auch ich dich Satra nennen.« Der Wesir sah die Frau prüfend an. »Ich komme jetzt zur Anklage. Du wirst beschuldigt, am achtundzwanzigsten Tag des vierten Erntemonats deinen Herrn Amunhotep, den Vorsteher der Osiris-Priesterschaft in Abydos, mit einer Keule brutal niedergeschlagen und schwer verletzt zu haben. Grund dafür soll Rache sein, weil er dich tags zuvor für das unerlaubte Baden im Teich des Tempels mit zehn Stockhieben bestrafen ließ. Du bestreitest das. Entspricht
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