Das Geschenk: Roman
Gedanken schon nach einem geeigneten Versteck, an dem er sich vor Lelia in Sicherheit bringen könnte, falls er zu Weihnachten nicht bei ihr erschien. Die Liste der Möglichkeiten war jedoch sehr kurz und nicht besonders viel versprechend.
Agnes Joe gesellte sich zu ihnen. Sie trug immer noch das Nachthemd, hatte sich jedoch zusätzlich einen Morgenmantel übergezogen.
»Wir sind auf irgendwas geprallt«, stellte sie fest.
»Sieht so aus«, entgegnete Tom, während er versuchte, sich an ihr vorbeizudrücken. Er musste jedoch feststellen, dass ihr Körper den Gang in seiner gesamten Breite versperrte, wie sie so vor ihm stand und ihn musterte. Amtrak musste unbedingt breitere Waggons bauen, um der ständig zunehmenden Körperfülle der Amerikaner Rechnung zu tragen.
Agnes Joe holte einen Apfel aus der Tasche, wischte ihn an ihrem Morgenmantel ab und biss herzhaft hinein. »Ich weiß noch, wie wir vor drei … nein, vier Jahren ebenfalls etwa hier waren und plötzlich stehen blieben.«
»Ach? Und was ist damals passiert?«, fragte Tom.
»Warum kommen Sie nicht mit in mein Abteil, machen es sich dort gemütlich und hören sich meine Geschichte an?«
Father Kelly und Tom wechselten einen raschen Blick; dann verschwand der Priester in der Sicherheit seines Amtrak-eigenen Kaninchenbaus und ließ den Journalisten allein. So viel zum Thema christliche Hilfe in Zeiten der Not, dachte Tom.
»Ich würde Ihre Einladung ja gern annehmen, aber ich muss mich fürs Abendessen frisch machen. Ich habe um sieben einen Platz reserviert.«
»Ich auch.«
Dem Blick nach zu urteilen, mit dem Agnes Joe ihn bedachte, musste Tom davon ausgehen, dass sie offensichtlich auf ein eindeutiges Angebot von ihm wartete. Er hingegen hatte für sie nur ein mattes Lächeln auf Lager, als es ihm endlich gelang, sich an ihr vorbeizuquetschen und sich in sein Abteil zu flüchten. Er verriegelte die Tür, zog den Vorhang vor und hätte wohl auch das Bett zur Sicherheit vor die Tür geschoben, wäre es nicht an der Wand festgeschraubt gewesen.
Tom machte sich fürs Dinner fertig, was bei ihm bedeutete, dass er sich Wasser ins Gesicht spritzte, sich mit einem Kamm durchs Haar fuhr und ein frisches Hemd anzog. Dann blickte er hinaus in den Gang, hielt Ausschau nach Agnes Joe, sah, dass die Luft rein war und rannte beinahe in den Speisewagen. Wenngleich er alles andere als ein Weltklassesprinter war, bewegte er sich dabei immer noch schneller als der Capitol Limited.
KAPITEL 10
Während Tom den Blick durch den Speisesaal schweifen ließ, kehrte er in Gedanken wieder zu seinem Bahnreisetraum Der unsichtbare Dritte zurück. In dem Film betritt Cary Grant, auf der Flucht vor der Polizei und dem Eisenbahnschaffner, den eleganten Speisewagen. Als armer Flüchtling vor der Justiz hat Grant keine Fahrkarte. Der in eine makellose Uniform gehüllte Oberkellner geleitet ihn vorbei an elegant gekleideten Gästen zum Tisch der hinreißend sexy aussehenden Eva Marie. Es stellt sich heraus, dass sie den Kellner mit einem großzügigen Trinkgeld bestochen hat, damit er Cary zu ihr an den Tisch setzt. Schöne Frauen machten so was ständig mit dem armen Cary. Sie bestellen, sie trinken, sie lachen. Sie vollziehen eine Art verbales Vorspiel am Tisch, wobei sich im vorliegenden Fall eine der heißesten Filmszenen daraus ergab, die Tom je gesehen hat, obwohl sie nur mit unterschwelliger Erotik erfüllt ist. Im Augenblick konnte er Eleanor in der Rolle Eva Marie Saints sehen. Ist das nicht tragisch, überlegte er. Tragisch deshalb, weil es keine Möglichkeit gab, dass dieser Traum sich für ihn erfüllte.
Bei Amtrak wurden Gäste gern zusammengesetzt, um Gespräche in Gang zu bringen und Bekanntschaften entstehen zu lassen, ganz gleich, wie flüchtig sie waren. Dieser Tradition gemäß saß Tom zwei Fremden gegenüber, einem Mann und einer Frau, beide mittleren Alters. Unglücklicherweise hatte die Frau nicht die geringste Ähnlichkeit mit Eva Marie Saint oder Eleanor. Der Mann trug einen Anzug und eine Krawatte. Am Tisch auf der anderen Seite des Mittelgangs saßen Steve und Julie. Sie tranken Rotwein, hielten Händchen, unterhielten sich mit gedämpften Stimmen und wirkten noch immer hochgradig nervös. Junge Liebe: Es gibt nichts Besseres und nichts Schlechteres, ging es Tom durch den Kopf. Außer vielleicht alte Liebe, die nicht erwidert wird. Jedenfalls war er sich dessen sicher, seit er Eleanor wiedergesehen hatte.
Nach dem, was er aus den Gesprächen der
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