Das Geschenk: Roman
verarbeiten«, fuhr Agnes Joe fort, während sie den Mann mit Blicken zu erdolchen schien, »und dann würde ich mir das Zeug direkt in die Venen spritzen – kurz bevor Sie mit der Kleinen ins Bett gehen. Dann würde ich aus dem Badezimmer stürmen, wilde Schreie ausstoßen, mir mit den Fäusten wie Tarzan auf die Brust trommeln und mich auf sie stürzen. Soviel ich weiß, lieben asiatische Frauen diese Technik.«
Der Mann schaute Tom gequält an. Offensichtlich suchte er Unterstützung von einem Geschlechtsgenossen. Doch alles, was Tom ihm anbieten konnte, lautete: »Ich hab das auch gehört … Kleiner«, und dann kippte er den Screwdriver in einem Zug hinunter, um nicht laut loszulachen.
Er bestellte sich ein Glas Rotwein und aß seine Mahlzeit, die sich als köstlich erwies. Dabei schaute er sich im Wagen um und stellte fest, dass an einem Tisch zwei Muslime und ein Amerikaner in eine angeregte Diskussion vertieft waren, offenbar eine Unterhaltung über religiöse Fragen. Jeder lächelte, sodass es höchstwahrscheinlich kein Streitgespräch war. An einem anderen Tisch wurde einer gut aussehenden Schwarzen mittleren Alters von einem jungen, ebenfalls gut aussehenden Koreaner der Hof gemacht. Sie wehrte seine Avancen mit scherzhaften Bemerkungen ab, aber Tom konnte erkennen, dass die Frau sich trotzdem geschmeichelt fühlte. An einem anderen Tisch tafelten einige Geschäftsleute mit der Tarot-Lady. Sie betrachtete die Hände der Herren und hatte ihre Karten vor den Überresten ihres Shenandoah-Valley-Backhuhns ausgebreitet. Während sie den Käsekuchen, für den dieser Zug berühmt war, mit einer Gabel in sich hineinschaufelte, hörten die Geschäftsleute, die einstweilen ihre Handys ausgeschaltet hatten, aufmerksam zu, was die Kartenleserin ihnen zu weissagen hatte.
Tom konnte nur den Kopf schütteln. Ginsengwurzeln, eine fliegende Agnes Joe, Passagiere jeder Rasse und Religion, eine interessante Bündelung wirtschaftlicher Macht mit schicksalsträchtigen Tarotkarten, dies alles vereint bei einer wohlschmeckenden Mahlzeit: Vielleicht hatten Züge wirklich etwas Besonderes. Während er sein Rotweinglas leerte, erfreute er sich daran, wie unglaublich ruhig und glatt der Capitol Limited mit null Meilen pro Stunde auf den Schienen lag.
KAPITEL 11
Als das Dinner beendet war, flüchtete Tom in den Salonwagen, der bei sämtlichen erfahrenen Bahnreisenden jedoch unter einer anderen Bezeichnung bekannt war, wie er bald feststellte: der Barwagen. Vor Jahren hatte es im Salon in der oberen Etage tatsächlich eine Bar gegeben, doch sie war im Zuge allgemeiner Kosteneinsparungen abgeschafft worden. Tom ging nach unten, um sich bei Tyrone mit einem Drink zu versorgen, und setzte sich dann in den Salon in der oberen Etage. Der Zug stand noch immer. Tom schaute auf die Uhr. Der Capitol Limited sollte längst kurz vor Connellsville in Pennsylvania sein, dabei hatten sie es noch nicht einmal bis Cumberland, Maryland, geschafft. Wenigstens hatte der Brandgeruch sich völlig verzogen.
Im Salon lief der Fernseher. Jim Carrey versuchte als Der Grinch Weihnachten zu verhindern. Eine Kinderschar, junge und ältere, und ihre Eltern hatten sich um den Fernseher versammelt. In anderen Nischen des Wagens waren kleinere Gruppen in Gespräche vertieft, und ein paar einzelne Fahrgäste schauten aus den dunklen Fenstern oder betrachteten in den Glasscheiben ihre eigenen Spiegelbilder. Auch der Salonwagen war mit Tannenzweigen, Lametta und anderem Weihnachtsschmuck dekoriert worden. Tom trank seinen Gin, knabberte Erdnüsse und Salzbrezeln und konzentrierte sich auf eine Gruppe Erwachsener in seiner Nähe. Einer las, eine Frau strickte, ein dritter trug Kopfhörer und hörte Musik. Hin und wieder blickte Tom zur Tür, in der Hoffnung, Max und Eleanor hereinkommen zu sehen, doch bis jetzt waren sie nicht erschienen.
»Sind Sie alle unterwegs, um irgendwo die Weihnachtstage zu verbringen?«, fragte Tom in freundlichem und aufrichtig interessiertem Tonfall, wie er hoffte. Seiner Erfahrung nach sorgte Gin stets dafür, dass man nach außen hin entspannt und zufrieden erschien, manchmal sogar ein wenig beschwipst.
Die strickende Frau blickte auf und lächelte. »Ich fahre nach South Bend, Indiana. Mein Enkelsohn studiert im zweiten Jahr an der Notre Dame. Ich verbringe die Feiertage bei ihm. Wahrscheinlich läuft es wieder mal darauf hinaus, dass ich koche und den Hausputz mache und seine Wäsche wasche, aber das ist schon in Ordnung. Dafür
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