Das geschenkte Gesicht
ersten Wehen. Ein Krankenwagen brachte sie nach Würzburg in das bereitgestellte Bett.
Um 9 Uhr morgens gebar sie das Kind. Einsam, weinend, nur im Beisein der Hebamme. Und als sie zurückkam in das Krankenzimmer, erschöpft, schweißgebadet, den Lysolgeruch des Kreißsaales um sich, empfingen sie kein Blumenstrauß, kein liebevoller Händedruck, kein Dankeskuß, kein liebes Wort, keine glücklichen Augen, keine Zärtlichkeit.
Man hob sie in ihr Bett, stellte eine Tasse Tee neben sie auf den Nachttisch und überließ sie der Einsamkeit.
»Ein Mädchen«, sagte Ursula, nur um etwas zu hören, einen Laut, eine menschliche Rührung. »Es ist ein Mädchen, Erich. Sollen wir es Erika nennen?«
Dann drehte sie sich zur Wand und weinte mit gegen den Mund gepreßten Fäusten.
Lisa Mainetti traf Erich Schwabe im Park. Er saß, in einen dicken, alten Militärmantel gehüllt, am Teich und fütterte mit Maiskörnern einen Schwarm Grünmeisen.
»Gratuliere«, sagte Lisa und klopfte Schwabe auf die Schulter. Erich Schwabe nickte beifällig.
»Nicht wahr, sie sind fast zahm. Es ist schön, mit Tieren zu leben. Sie machen es einem leicht, nicht mehr an die Menschen zu denken.«
Lisa bückte sich, nahm eine Handvoll Mais und streute sie in den girrenden Vogelschwarm hinein.
»Es soll Erika heißen«, sagte sie dabei.
Schwabes Hand, die zu den Maiskörnern griff, blieb auf halbem Wege in der Luft hängen. Es war nur ein kurzes Zusammenzucken – dann griffen seine Finger in den Topf und streuten neue Körner auf den festgestampften Schnee.
»Der dort, der Dicke, Grüne – das ist Otto. Ich hab' ihn so getauft. Er ist der Chef. Sehen Sie nur – er verteilt die Körner. Gestern saß Otto sogar auf meinem Zeigefinger und pickte mir auf den Nagel.«
»Es wiegt 8 Pfund und 345 Gramm, ist gesund und kräftig und hat ganz blonde lange Haare – wie Sie und Ursula … Petsch hatte dunkle Haare, nicht wahr?«
Schwabe stand auf. Dabei trat er den Topf mit den Maiskörnern um. Er merkte es nicht. Er hörte auch nicht, wie Otto schimpfte und mit den Flügeln schlug. Er sah Dr. Mainetti stumm an, fast anklagend, wandte sich dann ab und ging vornübergebeugt tiefer in den verschneiten Park hinein.
Lisa Mainetti folgte ihm nicht. Sie sah ihm nach, bis er zwischen den Buschgruppen verschwand. Sie bückte sich, drehte den Topf um und schöpfte mit der hohlen Hand die Maiskörner wieder hinein.
Was wird er tun? fragte sie sich. Er muß darauf reagieren. Es gibt keinen Menschen, der es einfach hinnimmt, ein schönes, gesundes, blondes Kind zu haben, 8 Pfund und 345 Gramm schwer.
Über zwei Stunden blieb Schwabe allein im kalten, verschneiten Park. Als er endlich zum Block B zurückkam, hatte Baumann eine Kanne Tee mit etwas Rum bereitgestellt und goß ihm stumm eine große Tasse voll ein. Schwabe trank den dampfenden Tee in kurzen, durstigen Zügen. Baumann beobachtete ihn lauernd wie ein Jäger das gestellte Wild.
»Wo ist es?« fragte Schwabe gleichgültig, als er die Tasse getrunken hatte. Er wischte sich den Schweiß ab, den ihm das heiße Getränk auf die Stirn getrieben hatte.
»In Würzburg. Zimmer 9. Frauenstation.«
»Kannst du mich hinfahren?«
»Ja«, sagte Baumann atemlos. »Morgen schon.«
»Gib mir noch 'ne Tasse.«
Baumann goß ein. »Eigentlich müßtest du einen ausgeben, Erich«, sagte er dabei.
»Warum?«
»Na, wenn man Vater wird …«
»Wer ist denn Vater geworden?«
»Verrückter, sturer Hund!« schrie Baumann und goß die heiße Tasse Tee über den Tisch. »In die Fresse müßte man sie dir gießen, wenn das nicht der Lisa wieder neue Arbeit machen würde!«
Erich Schwabe wartete, bis Baumann das Zimmer verlassen hatte. Dann goß er sich selbst wieder eine Tasse voll und malte mit dem Zeigefinger über die nasse Tischplatte.
Erika, schrieb er in den Tee mit Rum. Erika. Erika.
Dann nahm er die ganze Handfläche und putzte alles wieder weg und schob die Pfütze auf den Boden.
Sie hat lange blonde Haare, dachte er. Wie Ursula und ich.
Er sprang auf und stürzte an das Fenster, riß es auf und beugte sich hinaus. Unten hüpften die Grünmeisen noch immer um die Maiskörner.
»Otto«, rief er. »Otto – komm her.«
Ein Schrei war es, ein verzweifelter Schrei. Ein sinnloser Schrei. Sinnlos wie alles, was er sich vorgenommen hatte zu tun.
Dann sah er über die verschneiten Hügel hinweg und klammerte sich an den Fensterrahmen, als müsse er sich festhalten.
Dort liegt Würzburg, dachte er. Und acht
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