Das Gesetz der Neun - Goodkind, T: Gesetz der Neun - The Law of Nines
sie den Schal gar nicht um ihre Schultern.
Vielmehr blieb sie vor der kleinen Frisierkommode stehen und breitete den Schal über das an der Wand befestigte Quadrat aus poliertem Metall, das als Spiegel diente.
»Was tust du da, Mom?«
Mit glutvollem Blick wandte sie sich herum. »Sie starren mich an, das sagte ich doch. Sie betrachten mich durch die Fenster in der Wand.«
Ein unheimliches Gefühl beschlich Alex.
»Komm, Mom, setz dich wieder hin.«
Seine Mutter ließ sich auf der Bettkante nieder, ganz dicht bei ihm, und nahm seine Hand in beide Hände. Es war eine zärtliche Geste, die ihn unerwartet zu Tränen rührte. So etwas hatte sie zuvor noch nie getan. Ein schöneres Geburtstagsgeschenk hätte man ihm nicht machen können, es war sogar noch besser als die fünfzigtausend Morgen Land.
»Alex«, sagte sie leise. »Du musst fliehen und dich verstecken, ehe sie dich kriegen.«
Es hatte etwas Verstörendes, zum zweiten Mal am selben Tag
seinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Er hatte größte Mühe, seine Stimme zusammenzunehmen.
»Und was sind das für Leute, vor denen ich mich verstecken soll, Mom?«
Sie blickte um sich, beugte sich dann näher, damit er ihr Flüstern verstehen konnte.
»Menschen einer anderen Art.«
Einen Moment lang starrte er sie an. Es ergab keinen Sinn, und doch klang irgendetwas daran ernst, glaubwürdig.
In diesem Moment erregte etwas im Fernseher seine Aufmerksamkeit. Als er aufblickte, sah er, dass die Regionalnachrichten liefen. Ein Polizeisprecher stand vor einem Bündel Mikrofone.
Auf einem Nachrichtenband, das am unteren Bildschirmrand vorüberlief, war zu lesen: »Zwei städtische Streifenpolizisten tot aufgefunden.«
Alex griff nach der Fernbedienung und stellte den Ton lauter.
»Können Sie schon sagen, warum sie sich dort hinter den Lagerhallen aufgehalten haben?«, fragte soeben ein Reporter inmitten des allgemeinen Durcheinanders.
»Die Reviere Stadtzentrum und Neunzigste Straße liegen innerhalb ihres Einsatzgebietes«, erwiderte der Beamte. »Von den Gassen dort hat man überall Zugang zu den Ladedocks. Die werden von uns des Öfteren überprüft, weshalb ihr Aufenthalt an diesem Ort nicht ungewöhnlich war.«
Alex erinnerte sich noch gut an die Zeit, als die Neunzigste Straße, etwa zehn oder zwölf Meilen von seinem Haus entfernt, noch zu den Außenbezirken gehört hatte.
Ein anderer Reporter übertönte die anderen. »Es gibt Zeugenaussagen, denen zufolge die beiden Beamten mit gebrochenem Genick aufgefunden wurden. Trifft das zu?«
»Ich kann derartige Geschichten nicht kommentieren. Wie ich
bereits sagte, werden wir den Bericht des Gerichtsmediziners abwarten müssen. Sobald wir ihn haben, werden wir die Ergebnisse bekannt geben.«
»Wurden die Familien schon benachrichtigt?«
Der Beamte am Mikrofon zögerte, offenbar hatte er Mühe, die Worte über die Lippen zu bringen. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben. Immer wieder musste er seine Bestürzung unterdrücken.
»Ja. In dieser schweren Zeit gelten unsere Gebete und unser Mitgefühl ihren Familien.«
»Könnten Sie bitte ihre Namen bekannt geben?«, fragte eine Frau, die mit hektischen Bewegungen ihres Stifts die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte.
Der Beamte starrte auf die dichtgedrängte Gruppe aus Reportern, dann senkte er den Blick. »Officer John Tinney und Officer Peter Slawinski.« Er begann, die Namen zu buchstabieren.
Schlagartig erstarrte Alex am ganzen Körper zu Eis.
»Sie brechen den Menschen das Genick«, sagte seine Mutter tonlos, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet. Er war sicher, dass sie das soeben Gehörte wiederholte. »Sie haben es auf den Gang abgesehen.«
Dann brach ihr Blick, und er wusste, dass sie wieder im Begriff war, in die Dunkelheit zurückzukehren. Wenn ihr Blick erst diesen verschwommenen Ausdruck angenommen hatte, sprach sie für gewöhnlich wochenlang kein Wort mehr.
Er fühlte sein Handy in der Hosentasche vibrieren. Bestimmt wieder eine SMS von Bethany. Er achtete nicht darauf und legte seiner Mutter zärtlich den Arm um die Schultern.
7
Eine Zeitlang saß Alex einfach nur da, hielt seine Mutter im Arm und versuchte sich vorzustellen, welche Wahnvorstellungen sie heimsuchten. Sie schien sich seiner Gegenwart längst nicht mehr bewusst zu sein.
Am schlimmsten war, dass er keinerlei Hoffnung hatte. Die Ärzte hatten ihm erklärt, dass keine Aussicht auf Besserung bestand, sie niemals wieder ihr altes Selbst sein würde. Das
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