Das Gesetz Der Woelfe
Kind fast noch, töten. Es war nicht fair, dass es immer ihn traf. Was hatte er nur getan, dass ihm das Schicksal so übel mitspielte? Warum ließ man ihn nicht einfach in Ruhe?
Er wandte sich von der Waffe ab und ging ins Wohnzimmer, um sich einen großen Grappa einzuschenken. Den hatte er sich auf den Schreck hin leidlich verdient, fand er, auch wenn es noch nicht einmal Mittag war. Er ging mit dem vollen Glas in der Hand hinaus auf seine Dachterrasse. Es war schwül. Viel zu warm für April, und doch war es eigentlich ganz normal. Es war immer zu warm. Über den roten und braunen Dächern der Altstadt mit dem Gewirr der dünnfingrigen Antennen flimmerte bereits die Hitze. Bald würde der Sommer endgültig da sein, und man würde die Terrasse nur noch in den Abendstunden nutzen können. Wenn die tobende Hitze endlich zur Ruhe kam und die Menschen aus ihren Häusern auf die engen Gassen traten, die, aufgeheizt vom Tag, die Wärme nur langsam abgaben. An solchen Tagen hatte Mimmo Battaglia immer auf seiner Terrasse gesessen, ein Glas Nero d’Avola in der Hand, und den Wortfetzen gelauscht, die von unten zu ihm heraufdrangen, dem Lachen und Rufen der Teenager, die sich vorne an der Piazza trafen, dem Klappern der hohen Absätze an den schlanken, gebräunten Füßen der jungen Frauen, dem wütenden Kreischen der frisierten Vespas und motorini , den Klingeltönen zahlreicher Handys, die immer mit einem genervten und zugleich begierigen »Pronto? Pronto?« zum Verstummen gebracht wurden, nur um vom nächsten Piepsen oder einer blechern digitalisierten Arie von Aida abgelöst zu werden. Er aber hatte Abend für Abend dort oben gesessen, erfrischt von einer leichten Brise, die vom Hafen her wehte und den Geruch von Fisch und Salz mit sich brachte. Dieser Wind erreichte nicht die Gassen unter ihm, er strich nur über die Dächer hinweg, liebkoste die wenigen Terrassen dort oben mit ihren gepflegten Lorbeer- und Oleanderbüschen in von der Sonne gebleichten Terrakottatöpfen und ließ die bunt gestreiften Sonnensegel, die darüber gespannt waren, leicht erzittern wie unter einer sanften Berührung.
Mimmo fröstelte trotz der Vormittagshitze, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass es in diesem Sommer nicht mehr so sein würde. Es würde keinen einzigen solchen Sommer mehr für ihn geben. Entweder, er war dann schon zum Mörder geworden, und zwar zu einem Mörder, der mit eigener Hand getötet hatte, nicht nur durch ein paar Sätze am Telefon, die man versuchen konnte zu vergessen, oder aber, er hatte es nicht getan, nicht geschafft, und dann wäre er wohl kaum mehr am Leben. Ein anderer würde dann hier oben sitzen und dem Flug der Schwalben durch die violette Dämmerung zusehen, eine Zigarre in der Hand, eine schöne Frau im Arm. Mimmo starrte in sein Glas, in dem der Grappa klar wie Wasser und noch unberührt auf den ersten Schluck wartete. Eine schöne Frau hatte er schon sehr lange nicht mehr im Arm gehalten, dachte er noch, wehmütig, dann drehte er seiner Terrasse und der flirrenden, verheißungsvollen Frühlingswärme den Rücken zu und schloss die Läden. Er wollte nicht mehr dort hinausgehen. Die Helligkeit war nichts mehr für ihn. Er trank das Glas in einem Zug noch im Stehen, dann ging er zu seiner Couch und ließ sich schwer darauffallen. Er schenkte sich noch einmal ein, dann ein drittes Mal. Der warme, starke Alkohol rann beißend seine Kehle hinunter, doch er reichte nicht aus, die Beklemmung zu lösen, die ihn dort draußen auf der Terrasse erfasst hatte. Wie eine Zange hielt sie ihn gefangen und zerquetschte langsam und gründlich das, was von seinem Herzen noch übrig geblieben war. Schweiß perlte von seiner Stirn und tropfte ihm ätzend in die Augenwinkel. Er zwinkerte, wischte sich die Augen und merkte, dass es nicht nur Schweiß war. Er nahm die halbleere Grappaflasche und setzte sie an den Mund. In langen, gierigen, verzweifelten Schlucken trank er, als ob es sich um Leitungswasser handelte. Ein Verdurstender in der Wüste seines Herzens. Und endlich, endlich begann der Alkohol zu wirken, er tauchte seinen Geist in ein sanftes Zwielicht, ließ die Konturen des abgedunkelten Wohnzimmers verschwimmen. Seine Hand, die die leere Flasche umklammert hielt, sank zu Boden, sein Kopf fiel schwer auf die Lehne seines Sofas. Und dann, langsam, in Zeitlupe, begann der Revolver auf dem Küchentisch zu schweben, er drehte sich im Kreis, immer schneller, bis er nur noch ein blitzender Wirbel aus Schwärze und
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