Das Gesetz Der Woelfe
ein einzelnes Akkordeon und spielte die Anfangslaute einer Tarantella. Die Menge teilte sich und ließ einen kleinen Mann vorbei, der mit seinem Akkordeon nach vorne ging und leichtfüßig auf die Plattform sprang. Er hielt in seinem Spiel inne und stand dort, abwartend, stumm und kerzengerade. Auch die Menschen um den Platz herum waren verstummt. Es war unheimlich, diese plötzliche Stille, angesichts der Tatsache, dass sich Hunderte von wartenden Menschen auf dem Platz befanden. Ab und zu beleuchtete der Schein der Fackel die Gesichter der in erster Reihe Stehenden, dann verschwanden sie wieder in der Dunkelheit. Die Puppe schwankte ein wenig. Auf einmal ertönte ein Kommando wie ein Peitschenknall irgendwo aus der Dunkelheit, und der Mann mit dem Akkordeon begann wieder zu spielen, zuerst langsam, dann, auf einen weiteren unsichtbaren Ruf hin immer schneller und schneller. Mimmo bekam eine Gänsehaut. Er wusste, was diese schneidende Stimme, die dem Tarantellaspieler Befehle erteilte, zu bedeuten hatte. Er hatte davon gehört, sie jedoch noch nie selbst erlebt und sogar daran gezweifelt, dass sie noch immer praktiziert wurde: die so genannte kommandierte Tarantella , in der der mächtigste Mann am Ort die Befehle zum Tanz und zur Musik erteilte und keiner ohne seinen Befehl auch nur einen Schritt machen durfte. Diese Art Tanz wurde früher benutzt, um sich des bedingungslosen Gehorsams der Menschen zu versichern, aber er hatte nicht gedacht, dass es so etwas noch immer gab. Hektisch sah er sich um, doch die Dunkelheit verbarg denjenigen, der die Befehle gab. War es möglich, dass er es war? Dass er hier war, ihn womöglich sogar beobachtete? Ein weiterer Befehl ertönte, und die Menge begann, sich in Bewegung zu setzen, die Menschen tanzten um die Puppe herum wie Marionetten, an unsichtbare Fäden gebunden, vollkommen im Takt mit dem aufpeitschenden Klang des Akkordeons. Mimmo blieb keine Wahl, er musste sich ebenfalls in Bewegung setzen, er tanzte mit, mit einer Hand seine Kamera haltend, die andere an seine Brusttasche gedrückt. Irgendwo in einem vergessenen Winkel seiner Seele begann er plötzlich etwas zu begreifen, und kalte Finger legten sich um sein Herz. Und dann, in all seiner Angst, während er sich schwitzend und schnaufend, lächerlich anzusehen mit seiner nutzlosen Kamera vor dem Bauch, ungeschickt und mehr recht als schlecht zu den Tönen der Musik bewegte, regte sich etwas in ihm, das seine Mission empfindlich zu stören drohte: Bewunderung für den Mut dieses Jungen, der an einem Ort wie diesem wagte, so etwas Ungeheuerliches zu tun und das Schweigen zu brechen. Er fühlte, wie ihm die Luft zum Tanzen ausging. Seine Fußsohlen brannten, und sein Rücken war schweißgebadet. Er konnte nicht mehr. Doch er wagte nicht aufzuhören. Nicht einmal das. Da kam ein letztes Kommando und die Musik verebbte. Es war zu Ende, ohne dass der Kommandant in Erscheinung getreten wäre.
Die Menschen klatschten und feuerten die Fackelträger an, immer lauter und ausgelassener wurden die Rufe, bis endlich einer der Burschen, ein schlanker junger Kerl mit dunkler Haut und rabenschwarzen Haaren, unter lautem Beifall seine Fackel auf dem Boden ausdrückte, auf die Plattform sprang und unter die Puppe kroch. Der Akkordeonspieler begann wieder zu musizieren, dieses Mal vom sicheren Rand des Geschehens aus. Begleitet vom Pfeifen und Johlen der Zuschauer setzte sich die Puppe schwerfällig in Bewegung und drehte sich schließlich langsam im Takt der Musik um sich selbst. Doch damit nicht genug. Ein paar Minuten nur dauerte der groteske Tanz, bis die Zuschauer wieder ungeduldig wurden und erneut Anfeuerungsrufe ausstießen. Diesmal sprangen die restlichen Männer auf die Plattform, die Fackelstümpfe noch in den Händen. Sie stimmten ein lautes, grobes Lied an, von dem Mimmo, der eigentlich recht gut Dialekt sprach, keine Silbe verstand, das jedoch von der Menge aufgenommen und weitergesungen wurde. Mimmo stellten sich die Nackenhaare auf, als die Männer ihre Fackeln an die Puppe hielten, die sich noch immer schwankend im Kreis drehte. Sie brannte in Windeseile lichterloh. Funken stoben aus den Armen und dem Kopf der Hexe und verglühten erst hoch oben im schwarzen Himmel. Und die Puppe tanzte noch immer. Mimmo hielt den Atem an: Wann würde der junge Mann darunter hervorkriechen? Was, wenn er es nicht mehr schaffte? Allmählich verstummten die Zuschauer um ihn herum. Alle starrten auf die brennende, tanzende Hexe, manche
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