Das Gesetz Der Woelfe
dunkle, trübe Wasser des Kanals. Die Mauer schien direkt in den grauen Himmel zu wachsen, der sich teilnahmslos über der Stadt wölbte. Sie war allein. Das dumpfe Geräusch ihrer Schuhe auf dem Asphalt war der einzige Laut in der Stadt. Damm, damm, damm, damm. Das und ihr Atem, keuchend, gehetzt. Er schmerzte in ihren Lungen und pochte in ihren Schläfen. Dann, am Ende der Straße war sie plötzlich nicht mehr allein. Umgeben von Menschen, aneinandergedrängt, hilflos. Die bleichen Gesichter, stumm vor Entsetzen. Hinter ihnen das zuckende, blaue Licht. Clara entfuhr ein erstickter Schrei, und sie barg ihr Gesicht in den Händen. Jetzt schluchzte sie laut und versuchte, die Bilder in die dunklen staubigen Winkel zurückzudrängen, in denen sie so lange gelauert hatten. Es war vorbei. Vor ewigen Zeiten schon. Es wiederholte sich nicht. Nichts wiederholte sich. Und dann kam sie doch, die nagende, bohrende Frage, quälend wie glühendes Eisen. Warum tat er das? Warum? Hatte er nicht die gleiche Erinnerung wie sie? Hatte er vergessen, was geschehen war? Clara stand schwerfällig auf. Sie fühlte sich wie zerschlagen. Zu erschöpft, um wütend zu sein, zu müde, um noch Angst zu verspüren. Eine altbekannte Liedzeile kam ihr in den Sinn, bei jedem Auftritt hatten sie den Song gespielt, und es war so widersinnig und unpassend, dass ihr die Zeile gerade jetzt einfiel, dass ein müdes, bitteres Lächeln um ihren Mund erschien, während sie den Song leise vor sich hin sang: » In Dublin’s fair city, where the girls are so pretty, I met her, I kissed her, sweet Molly Malone …«
KALABRIEN
Giuvinuttellu undi pigghiati?
Ca ci su lupi e forsi vui sapiti?
Junger Mann, wohin gehen Sie?
Hier gibt es Wölfe, wissen Sie das nicht?
Aus: »Omertà, Onuri e Sangu; Il Canto di Malavita«
Traditionelle Lieder der kalabresischen Mafia
Filippo breitete seine Schätze vor sich aus. Bald hatte er alles beisammen. Bald war es so weit. Doch das Wichtigste fehlte noch. Und dazu musste er heute noch einmal los. Er strich über all die Gegenstände, die vor ihm auf dem Boden lagen, und sein Blick blieb eine Weile auf der Zeichnung ruhen. Wie viel Arbeit hatte sie ihn gekostet. Wie viele Versuche, immer und immer wieder zerrissen. Bis endlich, an einem Abend im Winter, der richtige Strich gelungen war. Und noch einer und noch einer. Von da an war es leicht gewesen. Flüssig war seine Hand über das Papier gehuscht. Dort noch eine Schraffierung, da eine Korrektur, eine kleine Veränderung. Wenn er jetzt auf das Bild sah, fröstelte ihn ein wenig, so gut war es ihm gelungen. Er hatte Talent zum Zeichnen. Alle hatten das gesagt, früher. Bis er nicht mehr gezeichnet hatte. Seine nonna hatte ihm den Block und die Kohlestifte geschenkt, Filippo war sich sicher, dass sie es auf den Rat der Ärztin hin getan hatte. Verarbeitung eines Traumas durch Bilder oder so ähnlich würde sie es genannt haben. Oh, ja, er verarbeitete sein Trauma, aber ganz anders, als die Ärztin und seine nonna es sich vorgestellt hatten.
Er packte alles zurück in die Kiste und versteckte sie unter dem Bett. Dann nahm er seinen Rucksack, zog sich die Turnschuhe an und verließ leise sein Zimmer. Seine Großmutter sollte ihn nicht hören. Sie würde nur Fragen stellen, wohin er denn wolle, so früh am Morgen, und dann hätte er lügen müssen. Sie hätte ihn mit ihrem scharfen Blick gemustert, in dem immer ein wenig Trauer lag, wenn sie ihn ansah, und womöglich hätte sie ihn nicht gehen lassen. Oder aber, er wäre freiwillig dageblieben, hätte sich mit ihr in die große Küche mit den alten Balken an der Decke und dem unebenen Steinboden gesetzt und einen caffè orzo mit ihr getrunken. Mit viel Milch.
Aber es hielt ihn niemand auf an diesem Morgen. Als er auf den Hof hinaustrat und leise die Türe hinter sich zuzog, atmete er tief durch. Die Luft war frisch, noch kühl von der mondhellen Nacht, und Filippo blieb stehen, um sich den dicken Pullover anzuziehen, den er vorsorglich eingepackt hatte. Sein motorino stand nicht wie üblich im Schuppen, er hatte es gestern Abend unten an der Einfahrt stehen lassen, um heute keinen Lärm machen zu müssen. Als er knatternd die leere Straße nach San Sebastiano hinunterfuhr, fühlte er sich mit einem Male unbeschreiblich wohl. Wie ein Ausreißer, ein Abenteurer, wie jemand, der mit unbekanntem Ziel aufbrach und frei war. Tatsächlich war sein Vorhaben ein Abenteuer, ein verrücktes noch dazu, und der Ausgang
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